Vielfalt unter der Sonne – Tiroler Naturführerkurs 2021 im Naturpark Kaunergrat
Der Naturpark Kaunergrat ist bekannt für seine Vielfalt an Lebensräumen, insbesondere für die artenreiche Kulturlandschaft des Natura2000-Naturschutzgebietes „Fließer Sonnenhänge“. Das für Tiroler Verhältnisse warme und trockene Klima un der weitgehende Verzicht auf landwirtschaftliche Intensivierung der Flächen haben dazu geführt, dass die Trockenrasen und -wiesen vielfältige Pflanzengemeinschaften und eine reiche Insektenfauna (besonders Schmetterlinge und Heuschrecken) beheimaten. Als Sahnehäubchen gibt’s noch strahlendes Sommerwetter kurz vor der Sommersonnenwende obendrauf – bessere Voraussetzungen für das Modul Wiese hätten wir uns kaum wünschen können.
Am Donnerstag Vormittag sind wir im Piller Moor unterwegs, ein naturkundliches Highlight nahe des Naturparkhauses etwa 500 Höhenmeter über Fließ. Gemeinsam mit zahlreichen kleineren Mooren und Feuchtgebieten bildet es einen ausgedehnten Moorkomplex am Piller Sattel. Der Biologe Philipp Kirschner führt uns rund ums Moor. Beim Moorturm, welcher einen wunderschönen Panoramablick und die Vogelperspektive über das Moor erlaubt, beschäftigen wir uns mit der nacheiszeitlichen Entstehungsgeschichte von Mooren. Mit dem Überblick über die Landschaft und ihre Formen werden die Begriffe Gletscherschliff, Verlandung, Niedermoor und Hochmoor greifbarer. Ombrogene (nur vom Niederschlag direkt gespeiste) Hochmoore sind in Tirol rar, und damit sind auch die an diesen Lebensraum angepassten Spezialisten selten. Die vier am Piller Moor vorkommenden fleischfressenden Pflanzen stehen daher allesamt unter Naturschutz: der Rundblättrige und Langblättrige Sonnentau, das Gemeine Fettkraut und der aquatisch lebende Gewöhnliche Wasserschlauch. Beim Einstieg in den Hochmoor-Bereich fällt auf, dass viele der in Assoziation mit den Torfmoosen vorkommenden hochspezialisierten Arten zur Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae) gehören: Besenheide, Rauschbeere, Moosbeere und Rosmarinheide. Deren ericoide Mykorrhiza, eine Spezialform der symbiontischen Wurzelpartnerschaft zwischen Pilzen und Pflanzen, stellt eine weitere bemerkenswerte Anpasssung an die mineralstoffarmen und sauren Bedingungen dar.
Auch der an das Moor angrenzende Bergwald hat einiges zu bieten. An einem Zirbenstamm fallen die Ringelspuren des seltenen Dreizehenspechtes auf. Der Blick über den aufgelassenen Torfstich lädt zu historischen Exkursen ein: die Gründe, aufgrund derer Moore entwässert und Torf abgebaut werden, sind vielfältig, galten sie doch dem utilitaristisch denkenden Menschen unseres Kulturkreises als wenig produktiver und nicht landwirtschaftlich nutzbarer Naturraum. Während in waldarmen Gegenden Torf auch als Heizmittel verwendet wurde, war er in der Gegend rund um den Piller Sattel in erster Linie als Gartensubstrat gefragt. Seit einigen Jahrzehnten findet zumindest in Mitteleuropa eine Trendumkehr statt, und viele der wenigen verbleibenden Moorflächen und Feuchtgebiete sind mittlerweile geschützt. Erstens wird die Rolle von Spezialstandorten für die Erhaltung der Biodiversität heute höher bewertet, und zweitens ist das Verständnis für die vielfältigen ökologischen Funktionen der Moore, die auch uns Menschen stark zugute kommen, gewachsen. Beispielhaft seien der natürliche Hochwasserschutz („Schwammeffekt“ in der Landschaft) und die enorme Bedeutung der Torfmassen als Speicher im globalen Kohlenstoffkreislauf genannt – wirksamer Klimaschutz muss den Stellenwert der Moore in der weltweiten Kohlendioxid-Bilanz unbedingt mitberücksichtigen.
Der in den 70er Jahren aufgelassene Torfstich konfrontiert uns mit einem Paradoxon. Einerseits sind die Flächen durch die historische Entwässerung und das Abtragen meterdicker Torfschichten stark degradiert und haben viel von ihrer ursprünglichen biologischen Wertigkeit verloren. Andererseits haben manche seltene Arten die neuen Bedingungen zu schätzen gelernt: Für Libellen wie die von uns gefangene Hufeisen-Azurjungfer sind die Wassergräben geeignet für die Larvenentwicklung, während wärmeliebende Insekten wie die Rote Schnarrschrecke oder verschiedene Sandlaufkäfer das spezielle Klima schätzen. Philipp nutzt diesen Bereich bei seinen Führungen mit Kindern und Erwachsenen besonders gerne für aktives Erforschen der wirbellosen Fauna. Auch wir lassen uns gerne dazu einladen und machen mit einfacher Sammelausrüstung eine Jägerin zur Gejagten: Das Objekt unserer Forscherbegierde ist die auffallend große Gerandete Jagdspinne, welche nach einer kurzen Durststrecke doch noch im Becher landet. Im Anschluss an die Moorführung machen wir in wenigen Minuten einen Temperatursprung. Im 500 Höhenmeter tiefer gelegenen Fließ ist es hochsommerlich, und die deutlich weiter fortgeschrittene Wiesenvegetation begrüßt uns mit einem Meer aus Farben.
Den Nachmittag starten wir mit Bildern, die fast aus einer anderen Welt zu kommen scheinen. Der pensionierte Biologielehrer Hubert Salzburger hat neben dem Imkern, Gärtnern und der Naturkunde im Allgemeinen eine besondere Leidenschaft für die Makrofotografie von Blüten und deren Besuchern. Es ist aber nicht nur die ästhetische Schönheit, die Hubert dabei anzieht, sondern auch das Studium und Verständnis der faszinierenden Wechselbeziehungen zwischen Blütenpflanzen und ihren Bestäubern – eines der offensichtlichsten und bekanntesten Beispiele für Co-Evolution. Wir sind es gewohnt, beim Thema Bestäubung sofort an die Honigbiene zu denken. Oft wird dabei vergessen, dass eine Vielzahl von Insektengruppen diese ökologische Funktion übernimmt: Wildbienen (mehr als 600 Arten in Österreich!), Schmetterlinge, Fliegen, Wespen, Ameisen und Käfer sind an jeweils unterschiedliche Blütenformen angepasst. Die Form eines bestimmten Blütentyps erlaubt also Rückschlüsse auf die Anatomie und das Verhalten der jeweiligen Bestäuber. Für die auffälligen und großen Scheibenblüten verwendet Hubert gerne die Analogie ders Fast-Food-Restaurants (viel Werbung, alle willkommen), während die Röhrenblütenform mit ihrer erschwerten Zugänglichkeit zum Nektar eher das Bild eines exklusiven Feinschmeckerlokals aufkommen lässt (langer Rüssel als „Eintrittskarte“). Auch Schalenblüten, Lippenblüten, Glockenblüten und Stieltellerblüten haben jeweils Vor- und Nachteile und komplexe Wechselbeziehungen mit ihren Bestäubern. Doch nicht immer muss die Interaktion von beiden Parteien gewollt sein: Wir erfahren vom „Insekten-Kidnapping“ des Aronstabes und dem „Nektardiebstahl“ durch Hummeln.
Die kurze Exkursion durch die Trockenwiesen im Abschluss an den Bildervortrag ist voll von kleinen Geschichten und Experimenten zum Vorzeigen. Am Wiesensalbei testen wir den Hebelmechanismus zur Pollenabgabe, der sonst meistens von Hummeln ausgelöst wird. Auch die Verwendung von Wolfsmilchsaft als „Seifenblase“ ist eine tolle Auflockerung für jede Naturführung. Wir stoßen auf drei heimische Wegericharten. Der als Heilpflanze geschätzte Spitzwegerich und der unverwüstliche Breitwegerich lassen mit ihren unscheinbaren Blüten auf Windbestäubung schließen, während die auffälligeren Blüten des Mittleren Wegerichs anzeigen, dass hier auch Insekten involviert sind. Auch zu den Sträuchern Weiß- und Schwarzdorn, Hundsrose, Sanddorn und Schwarzer Holunder gibt es viele Geschichten und Wissenswertes zu erfahren. Jede:r Kursteilnehmer:in sucht sich eine Pflanze aus, um sich zuhause noch einmal vertieft mit dem „Patenkind“ auseinanderzusetzen. Wir werden dazu motiviert, in Zukunft noch eine Stufe genauer hinzuschauen – ganz nach dem Vorbild von Huberts Makroobjektiv.
Am Abend genießen wir das großartige Panorama vom „Gachen Blick“ aus und betrachten Fließ aus der Vogelperspektive, während uns Philipp Kirschner einen Überblick über den Naturpark Kaunergrat gewährt. Der „Landkartenteppich“ im Eingangsbereich des Naturparkhauses hilft später bei der Orientierung. Das naturkundliche Potential der Gegend können wir nach dem ersten Tag in der Gegend schon gut erahnen, eine beeindruckende Zahl untermauert das Bauchgefühl: 1.200 verschiedene Schmetterlingsarten wurden alleine auf den Fließer Sonnenhängen gezählt! Die gelungene und informative Naturpark-Dauerausstellung bietet einen entspannten Tagesausklang.
Am zweiten Tag mit Biologin und Botanik-Expertin Kerstin Blassnig steht eine ausgedehnte Wanderung auf dem Programm. Ziel ist es, die Vielfalt der Fließer Kulturlandschaft über einen Gradienten von etwa 500 Höhenmetern kennenzulernen – und damit eine Sensibilität für die Unterscheidung jener Typen von Landschaftselementen zu schaffen, die im Verlauf von Jahrhunderten und Jahrtausenden durch menschlichen Einfluss entstanden sind, und nur durch Bewirtschaftung erhalten bleiben. Die kulturgeschichtliche Auseinandersetzung startet in der Jungsteinzeit. Beim ersten Stopp bei der Philomenakapelle etwas außerhalb des Dorfes gibt es so genannte Schalensteine zu bestaunen, die auf eine vorchristliche Bedeutung als Kultplatz hinweisen. Doch nicht nur in Talnähe, auch weiter oben am Berg gibt es Spuren der frühen Besidelungsgeschichte. Der Brandopferplatz am Piller Sattel kann eine durchgehende Verwendung als Kultplatz über 2.000 Jahre ab 500 v. Chr. für sich verbuchen. Die flacheren und klimabegünstigten Ackerterrassen in Dorfnähe werden heute großteils gemäht. Für die rätoromanischen frühen Siedler waren sie dafür zu kostbar, damals wuchsen hier Getreide und andere Feldfrüchte. Das warmtrockene Klima in Fließ und der Schwerpunkt auf Ackerbau erlaubten es, viele Menschen auf kleiner Fläche zu ernähren.
Bei der ersten Übung geht es darum, sich im Gewirr der verschiedenen Begriffe, die mit Wiesen, Weiden und Rasen in Verbindung gebracht werden, zurechtzufinden. Wir erfahren, dass ein vergleichsweise kleiner Teil der in der Tiroler Landschaft existierenden offenen Flächen primäres Grasland ist, etwa die alpinen Rasen oberhalb der Baumgrenze sowie Trockenrasen und Niedermoore. Sekundäres Grünland ist durch menschliche Einflussnahme entstanden (ursprünglich Rodung) und bedarf einer kontinuierlichen Bewirtschaftung durch Beweidung oder Mahd, wenn eine Verbuschung verhindert werden soll. Bei ersterer Bewirtschaftungsform spricht mensch von Weiden, bei zweiterer von Wiesen.
Bei den Mähwiesen in Dorfnähe wurde der erste Schnitt schon getätigt, und die Heulader bingen die Ernte in die Scheunen. Einige moderne Bewässerungsanlagen deuten auch hier auf eine Intensivierung der landwirtschaftlichen Tätigkeit hin. Diese steigert zwar die Produktion pro Fläche, allerdings werden trockenheitstolerante Spezialisten unter den Pflanzen und die mit ihnen assoziierten seltenen Insektenarten so von den Flächen verdrängt. Trotzdem stoßen wir an vielen Stellen noch auf Magerkeitszeiger wie den Wiesen-Salbei, die Magerwiesen-Margerite oder das Zittergras. Weiter oben am Berg wird an einem Hangmoor deutlich, dass nicht nur Trockenheit biologisch interessante Sonderstandorte schafft. Aus dem von Wollgräsern dominierten Wiesenabschnitt leuchten verschiedene Knabenkräuter. Aus der farbenprächtigen Mähwiese nebenan nehmen wir gleich einen Strauß Blütenpflanzen für die Bestimmungsübung mit. Mit Hilfe von Lupen und einfacher Bestimmungsliteratur erarbeiten sich die Teilnehmer:innen nach und nach Wiesen-Bocksbart, Wundklee, Vogelwicke, Schafgarbe, Bittersüßen Nachtschatten, Weidenblättriges Ochsenauge und viele mehr. Auch seltenere Spezialisten wie der Schild-Ampfer, die Traubige Graslilie und die Karthäuser-Nelke werden punktgenau bestimmt.
Nach dem schweißtreibenden Anstieg bei hochsommerlichen Temperaturen kommt der Höhepunkt (im wahrsten Sinne des Wortes) unserer Exkursion gerade recht. Der kühle Waldweiher 500 vertikale Meter über Fließ, einst als Speicherteich zu Bewässerungszwecken angelegt, erfrischt die müden Beine – manche genießen sogar ein paar Schwimmzüge. Die einschürige Berg-Mähwiese neben dem Gewässer kann wohl als ästhetisches Highlight der botanischen Wanderung gelten. Die Enziane sind zwar schon verblüht, aber zahlreiche Orchideen (Fuchs‘ Knabenkraut, Breitblättriges Knabenkraut, Schwarzes Kohlröschen, Mücken-Händelwurz und Wohlriechende Händelwurz) sorgen gemeinsam mit Schwefel-Anemone, Sumpf-Läusekraut, Arnika, Katzenpfötchen und Gold-Pippau für Farbtupfer quer durch die Palette. Beflügelt von so viel Schönheit und beladen mit Pflanzenwissen geht der steile Abstieg zurück nach Fließ im Nu.
Am dritten Tag suchen wir nochmal das Piller Moor und den umgebenden Bergwald auf. Zuerst flüchten wir noch vor einem hungrigen Stechmückenschwarm, doch schon bald finden wir einen besseren Versammlungsplatz, an dem wir uns auch auf die größeren geflügelten Tiere konzentrieren können. Die Biologin Silvia Hirsch vom Alpenzoo Innsbruck bietet der Gruppe mit partizipativen Methoden, die in erster Linie zu eigener Beobachtung und Beschäftigung ermutigen, einen Einstieg in die faszinierende Welt der heimischen Vögel. Zuerst werden die Unterschiede zwischen Gesang und Rufen abgesteckt. Ersterer dient unter anderem zum Anlocken von potentiellen Partnern und der Markierung des Reviers, zweitere umfassen Rufe zwischen Partnern, Warnrufe bei Gefahr und Bettelrufe hungriger Jungvögel.
Silvia empfiehlt, sich zum Einstieg mit wenigen Vogelarten, dafür aber intensiv zu beschäftigen. Eine ganze Vogelstimmen-Datenbank zuhause auswendig lernen zu wollen sei wenig zielführend. Wenn Auge, Ohr, Hirn und Herz offen sind für die Vögel zum Beispiel unserer unmittelbaren Wohnumgebung oder Spazierroute, dann ist die beste Basis für nachhaltiges und freudvolles Lernen geschaffen. Silvia versteht es jedenfalls, einen Samen an Begeisterung und Neugierde zu setzen, der vielleicht bei manchen Teilnehmer:innen ein gutes Substrat findet und zu einer intensiveren und aufmerksameren Beschäftigung mit der Vogelwelt wächst – ein nicht nur intellektuell, sondern auch emotional sehr befriedigender Zeitvertreib. Ornitholog:innen und Vogelfreund:innen verwenden oft kleine Merksätze zur Beschreibung der Gesänge und Rufe – manche übernehmen lieber die „Klassiker“, andere reimen sich ihre Eselsbrücken selbst zusammen. Nach dem Buchfink und seiner Frage nach dem „würzigen Bier“ hören wir auch den selbsterklärenden Zilpzalp und das melancholische Rotkehlchen.
Der Zugang über die Vogelstimmen zum Erkennen oder Kartieren von Vögeln bietet sich deshalb an, da die Individuen oft klein, beweglich und in ihrem Lebensraum gut versteckt sind. Da hilft oft auch das beste Fernglas nicht mehr weiter! Wenn der Buchfink ganz oben am Baumwipfel trällert, geht er einen „trade-off“ ein: Einerseits ist der Gesang damit weiter zu hören, andererseits setzt sich der Vogel auch einem höheren Risiko aus, von Greifvögeln wie dem Habicht erwischt zu werden. Sobald Silvia den Gesang abspielt, wird ein Buchfink sogar neugierig und kommt in unsere Nähe, um zu erkunden, wer sich da so dreist in sein Revier wagt. Mit etwas Geduld und guter Beobachtungsgabe lassen sich den meisten Vogelarten auch die optischen Details und charakteristischen anatomischen Merkmale entlocken. Darum geht es bei der intensiven Beobachtungsaufgabe in Zweiergruppen. Sie bekommen den Auftrag, anhand der Hinweise eines speziell dafür gestalteten Arbeitsblattes einen Vogel der Wahl mit geschärften Sinnen und Fernglas besonders aufmerksam zu beobachten. Zilpzalp, Mönchsgrasmücke, Kohlmeise und Tannenhäher werden somit einer ganz genauen Betrachtung unterzogen. Letzterer wird in Tirol auch „Zirbengratsch“ genannt (wir einigen uns darauf, dass die Tiroler Bezeichnung besser zur Ökologie und Lebensweise des Vogels passt als der irreführende deutsche Name) und ist für seine kognitiven Fähigkeiten und fast schon maschinenähnlichen Rufe bekannt.
Im Wald oberhalb des Torfstichs beschäftigen wir uns mit der Frage, wie auch scheuere Tiere, die wir selten bei Aktionen mit Gruppen zu Gesicht bekommen werden, Bestandteil einer lebendigen Naturführung voller interessanter Geschichten werden können. Ein Weg dahin führt über die verschiedenen charakteristischen Spuren und Hinterlassenschaften der Tiere. Größere Tiere hinterlassen auf vegetationslosem Untergrund Trittsiegel, und vor allem im Winter sind die Fährten von Tieren oft über weite Strecken zu verfolgen. Doch Tierspuren umfassen weit mehr als Fußabdrücke: Bei einer Suchaktion finden die Teilnehmer:innen Hasen- und Hirschlosung sowie die faserreichen Ausscheidungen und eine Feder eines Rauhfußhuhns. Fraßspuren von Eichhörnchen an Fichten- und Zirbenzapfen vergleichen wir mit jenen von Mäusen, Tannenhähern und Spechten. Die Fraßgänge und Kammern des Buchdruckers sind in der Fortswirtschaft gefürchtet, geben aber optisch viel her. Abschließend beschäftigen wir uns noch mit den unscheinbaren „Ananasgallen“ von Fichtengallenläusen, kleine Tiere mit einem unglaublich komplexen Lebenszyklus und Wirtswechsel zwischen Fichten und Lärchen.
Am Nachmittag teilt Silvia ihre Expertise über heimische Säugetiere mit Hilfe einer bebilderten Präsentation und einem reichen Schatz an mitgebrachten Präparaten. Die verschiedenen Säugetierarten und -gruppen werden nach Lebensräumen gegliedert kurz vorgestellt. Wir starten unsere virtuelle Wanderung durch die Höhenstufen im Talboden mit den ans Wasser gebundenen Bibern und Fischottern und steigen schließlich auf bis zu den Gebirgspaarhufern Gämse und Alpensteinbock. Lange schneereiche Bergwinter wie der gerade ausklingende stellen diese Tiere vor große Herausforderungen. Den Gipfelrekord unter den alpinen Säugetieren hält die Schneemaus – sie besiedelt in den Alpen Höhenlagen bis zu 4.000 Metern! Mit den Präparaten zum Anfassen endet der Tag mit Silvia Hirsch, der ganz im Zeichen der heimischen Tierwelt stand. Eine tolle Gelegenheit, verschiedene Vogelnester, -eier und -federn in Ruhe aus der Nähe zu betrachten.
Am Abend mit dem Entomologen (Insektenkundler) Kurt Lechner, der seit vielen Jahren den Natopia Erlebnisunterricht Insekten entwickelt und betreut, steht eine Einführung in die Sechsbeiner auf dem Programm. Ziel ist es, genügend Grundverständnis zu vermitteln, um am nächsten Tag bei der Praxiseinheit auf den Fließer Sonnenhängen darauf aufbauen und Insekten eigenständig beobachten und erforschen zu können. Doch weil man Feste in der Naturvermittlung feiern muss, wie sie fallen, starten wir entgegen des ursprünglichen Plans vor der Tür des Dorfzentrums, weil sich dort ein stattlicher Ligusterschwärmer vor seiner Nachtschicht ausgebreitet hat. Kurt nutzt den besonders großen Nachtfalter, um auf Details wie den Saugrüssel und die Fühler aufmerksam zu machen. Schon in der nächsten Minute fängt er mit einem beeindruckenden Drehsprung einen davonfliegenden Rosenkäfer mit bloßer Hand aus der Luft. Schon sind wir mitten in der faszinierenden Welt der Insekten angekommen, die schon seit mindestens 400 Millionen Jahren die Erde bewohnen und schon alleine durch ihre Formen- und Artenvielfalt beeindrucken. Fast eine Million Insektenarten wurden bisher beschrieben (Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen Arten und mehr aus), damit verkörpern sie 60 Prozent des tierischen Artenreichtums. In Österreich gibt es etwa 37.000 Arten, mehr als im angrenzenden und flächenmäßig viel größeren Deutschland. Den Löwenanteil der Vielfalt stellen die Ordnungen der Käfer, Schmetterlinge, Hautflügler und Zweiflügler, wobei es besonders bei letzteren beiden Gruppen noch große Wissens- und Forschungslücken gibt. Anscheinend beschäftigen sich auch Wissenschaftler:innen lieber mit Schmetterlingen als mit Mücken! Jedes Jahr werden weltweit mehrere tausend Insektenarten neu beschrieben. Die traurige Seite der Vielfalt ist, dass jährlich im Zuge des anthropogenen („menschgemachten“) Massenaussterbens eine noch viel größere Zahl an Insekten für immer verschwindet. 40 Prozent aller Insektenarten sind laut einer australischen Metastudie vom Aussterben bedroht, und der Rückgang in den Populationsgrößen ist noch erschreckender. Viel internationale mediale Aufmerksamkeit hat die sogenannte „Krefeld-Studie“ erhalten, welche auf Biomasseaufnahmen fliegender Insekten in Schutzgebieten über fast drei Jahrzehnte aufbaut. Die Biomasse fliegender Insekten hat im Beobachtungszeitraum um 76-81 Prozent abgenommen! Diese und andere Veröffentlichungen und Kampagnen haben dazu geführt, dass nach dem Klimawandel nun auch der weltweite Lebensraumverlust und Artensterben langsam in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rutscht. Nicht nur für Insektenfreunde, sondern für alle Menschen hat diese Entwicklung viel Gewicht. Insekten verarbeiten organisches Material, bestäuben 90 Prozent der Blütenpflanzen, sind an vielen Stellen in die Nahrungsnetze eingebunden und damit wichtige ökologische Regulatoren.
Im Anschluss an die allgemeine Einführung werden die wichtigsten Gruppen von Insekten kurz angesprochen, bevor der allgemeine Körperbau dieser Tiergruppe behandelt wird: der dreigeteilte Körper mit sechs Beinen am Brustteil (Thorax), die zeitlich hochauflösenden Facettenaugen (bestehend aus bis zu jeweils 30.000 Einzelaugen bei Libellen), die Stigmen genannten seitlichen Öffnungen des Tracheensystems zur Atmung, das Exoskelett (Panzer unter anderem aus Chitin), um nur einige Grundmerkmale zu nennen. Gegen Ende des Abends gelingt es Kurt, die langsam eintretende Müdigkeit mit tollen Präparaten heimischer und tropischer Insektenarten nochmal zu vertreiben.
Der Sonntag und die Fließer Sonnenhänge machen am nächsten Morgen ihren Namen alle Ehre, und so bauen wir unsere kleine mobile Forschungsstation im Schatten eines Baumes auf. Nicht nur wir profitieren vom Sonnenschutz, sondern auch die Insekten, die in kleinen Sammelgefäßen kurz zur Beobachtung aufbewahrt werden, bevor sie wieder krabbeln und fliegen dürfen. Für Schmetterlinge und andere Fluginsekten werden Kescher verwendet, Insekten und andere Gliederfüßer am Boden können direkt mit dem Sammelgefäß oder einer Becherlupe eingesammelt werden. Diese unmittelbare Beschäftigung mit Kleintieren weckt bei vielen Teilnehmer:innen große Begeisterung oder auch Kindheitserinnerungen. Kurt äußert seine Besorgnis darüber, dass sich immer weniger Kinder und auch Erwachsene aktiv mit anderen Lebewesen beschäftigen. Daher kommt auch die Motivation, über Umweltbildungsmaßnahmen an Schulen und mit anderen Gruppen diesen abgerissenen Verbindungen wieder neues Leben einzuhauchen.
Aus der Ordnung der Schmetterlinge gehen uns gleich ein Trockenheit und Wärme liebender Mauerfuchs und der schön geaderte Baumweißling ins Netz. Star unter der Schmetterlingen ist aber zweifelsohne der seltene Apollofalter, der mit leuchtenden roten Punkten auf den weißen Flügeln auf sich aufmerksam macht – eine Charakterart für die Fließer Sonnenhänge! Der ebenfalls typische Segelfalter wartet mit seinem Auftritt bis zum Ende der Exkursion und verlangt den Fängern einiges ab. Königskerzen-Mönch, Wolfsmilchschwärmer, Schlehen-Bürstenspinner und Silbergrüner Bläuling fliegen nicht davon, weil sie uns noch als Raupen begegnen. Bei den Käfern stechen vor allem der sonnenliebende, kräftige und schnelle Berg-Sandlaufkäfer und der Goldglänzende Rosenkäfer hervor. Letzterer ist der auffälligste Vertreter der gefundenen Exemplare aus der Familie der Blatthornkäfer, aber auch die häufigen Maikäfer, Purzelkäfer und Gartenlaubkäfer gehören in diese Gruppe. Ein Vertreter der Schnellkäfer führt uns im Vorzeige-Experiment eindrucksvoll vor, wie diese Käfergruppe zu ihrem Namen kam. Auch die Prachtkäfer machen ihrem Namen alle Ehre, und der Ameisen-Sackkäfer trägt seine interessante Lebensweise im Namen. Heuschrecken finden wir in allen Entwicklungsstadien. An der Großen Höckerschrecke lässt sich sehr gut die Geräuscherzeugung der Kurzfühlerschrecken am lebenden Tier vorführen, das entsprechende Fingerspitzengefühl macht’s möglich! Die Kleine Goldschrecke führt uns live vor, was Regurgitation bedeutet. Wir stoßen auf die Nymphen (Larvenstadien) einer Ödlandschrecke und des Großen Heupferds, und später auf ein abgelebtes Weibchen einer Feldgrille mit dem auffälligen Legebohrer. Wanzen sind die Abwehrkünstler unter den Insekten. Neben der Lederwanze stoßen wir gegen Ende der Exkursion auf die auffällige Rote Mordwanze, die vorsichtiges Handling erfordert, um den schmerzhaften Stich zu vermeiden. Die zu den Schaumzikaden gehörende Blutzikade hingegen ist ganz harmlos. Bei den Hautflüglern kommt neben Ameisen, Bienen und einer Ackerhummel eine Vielfalt an Wespen zutage – Sand-, Schlupf-, Lehm- und Goldwespen . Auf die ungeflügelten Vertreter der Hautflügler ohne Fluchtmöglichkeit auf dem Luftweg hat es der Ameisenlöwe mit seiner beeindruckenden Fangstrategie abgesehen. Wir wagen eine Raubtierfütterung und beobachten, wie die Ameise aus dem sandigen Fangtrichter nicht mehr entkommen kann und zur Nahrung für die Larve der Ameisenjungfer (Ordnung Netzflügler) mit dem kuriosen Namen wird.
Am Nachmittag werden die wichtigsten Insektenordnungen und ihre Merkmale drinnen vertiefend besprochen. Beim anschließenden Quiz werden unbeschriftete Fotos von Insekten systematisch zugeteilt. Doch wie ein guter Zauberer hat sich Kurt für den Abschluss des Insektenmarathons einen ganz besonderen Höhepunkt aufbewahrt. Aus Kartons und Kisten lässt er lebende Individuen tropischer Rieseninsekten aus seiner Sammlung krabbeln, freiwillige Teilnehmer:innen können sich auch selbst als temporärer Ast für Gespenstschrecke, Stabschrecke und Wandelndes Blatt zur Verfügung stellen. Nur bei der Dschungelnymphe ist Vorsicht angesagt: aufgrund ihres Verteidigungs-Mechanismus empfiehlt sich eine Berührung nur mit dicken Handschuhen!
Wir verlassen Fließ nach vier Tagen mit Hochsommer-Feeling und sind wieder einmal dazu motiviert, in Zukunft noch genauer hinzuschauen und zu hören. Ein herzlicher Dank an den Naturpark Kaunergrat, die Gemeinde Fließ und das Hotel Traube für die freundliche Bewirtung.