Wald voller Wunder im Naturpark Ötztal – Tiroler Naturführerkurs 2022 geht in die zweite Runde
Noch bevor wir ins Ötztal reisen, beginnt das Modul zum Lebensraum Wald an einem für Tirol einzigartigen Standort. Die angehenden Naturführerinnen und Naturführer treffen sich bei angenehmem Frühsommerwetter beim Naturdenkmal Stamser Eichenwald. Eine Kombination von Faktoren, darunter die Besitzverhältnisse und die Schutzwaldfunktion, hat dazu geführt, dass sich hier ein Relikt der früher ausgedehnteren Hartholz-Trockenau erhalten konnte. Dieser Lebensraumtyp ist anderswo im Inntal längst der Besiedelung und Gewinnung von Landwirtschaftsflächen zum Opfer gefallen. Jahrhundertealte Stiel-Eichen erfreuen hier genauso das Auge wie imposante Winter-Linden und seltene Berg-Ulmen.
Bevor sich die Gruppe jedoch fachlich tief in die Materie stürzt, hilft uns Erlebnispädagoge Mag. Christian Moser vom Institut für Sozialpädagogik Stams, der an diesem Tag gewissermaßen ein Heimspiel bestreitet, bei der Erstorientierung. Weniger als um die naturkundliche Auseinandersetzung mit dem Standort geht es bei den Übungen, die er für uns vorbereitet hat, vielmehr darum, dass die Menschen zu sich selbst und in der Gruppe zueinander finden. Der Einstieg mit „Slow Motion“ dient dem bewussten Ankommen, die Kursteilnehmer*innen saugen das üppige Grün mit allen Sinnen geradezu auf. Die anschließende Landkarten-Aufstellung nach Wohnorten verlangt schon etwas mehr Austausch und Interaktion. Bei der nächsten Übung streifen wir mit dem Totholz schon ein wichtiges ökologisches Thema im Stamser Eichenwald. Uns dient der mächtige Eichenstamm am Boden allerdings erstmal als Bühne für eine Gruppenherausforderung: Die Teilnehmer*innen, welche sich zuerst in zufälliger Reihenfolge auf den Stamm gestellt haben, sollen sich nach Vornamen alphabetisch ordnen, ohne abzusteigen und den Boden zu berühren. Keine einfache Aufgabe, aber machbar mit Strategie, Achtsamkeit und gegenseitiger Unterstützung. Die nächste Übung lädt zum kreativen Bauen mit Naturmaterialien ein. Die Schwierigkeit besteht darin, dass drei Kleingruppen ein möglichst identisches Ergebnis erzielen sollten, ohne jedoch direkt miteinander in Austausch zu sein. Nur jeweils ein*e Botschafter*in pro Kleingruppe darf zum Gruppentreff, von wo aus die Handlungen koordiniert werden. In der Jausenpause regt allein der Anblick eines imposanten Schwefelporlings am Fuß einer alten Stiel-Eiche den Appetit an. Wegen des an Huhn erinnernden Geschmacks ist er im englischen Sprachraum auch als „chicken of the woods“ bekannt. Gestärkt geht es in die nächste Herausforderung: Die Kursteilnehmer*innen sollen sich blind an der „Blind Line“ orientieren, und dabei auch noch verschiedene Gegenstände mit Fingerspitzengefühl ertasten und einprägen. An diesem ausgesprochen kurzweiligen Vormittag haben wir einen Einblick in ein Tätigkeitsfeld der Outdoor-Pädagogik erhalten, mit dessen Methoden wir unsere Naturführungen auflockern und aufwerten können.
Nach einer stärkenden Mittagspause unter alten Bäumen sind wir mit Dipl. Ing. Andreas Pohl, Leiter der Bezirksforstinspektion Imst, verabredet. Mit ihm drehen wir eine kleine Runde durch das Gebiet des Naturdenkmals Stamser Eichenwald – diesmal gilt die Aufmerksamkeit in erster Linie forstlichen Aspekten und, auf den Standort Bezug nehmend, den Bemühungen im Schutzgebietsmanagement. Wir kommen auf die vier vorrangigen Funktionen des Waldes für den Menschen zu sprechen (Nutzung, Schutz, Wohlfahrt, Erholung), und Andreas teilt viele Geschichten über diverse Interessenskonflikte aus dem forstlichen Alltag. Besonders muss sich die Fortwirtschaft als ein auf Nachhaltigkeit und langfristige Zielsetzungen ausgerichteter Wirtschaftszweig mit den Herausforderungen einer Welt im Wandel auseinandersetzen. Später werden wir noch eine gute Aussicht auf einen schwer in Mitleidenschaft gezogenen Schutzwald am Wengenberg südlich von Stams haben. Die Fichte ist besonders außerhalb ihres natürlichen Verbreitungsgebietes anfällig für Windwurf und Schädlingsbefall, und dieser Umstand wird mit dem Klimawandel und der Tendenz zu heißen Sommern und ausgedehnten Trockenphasen nicht besser – ganze elf Hektar sind hier schwer betroffen. Wenn man bedenkt, dass bereits für 2050 für den Bezirk 3-4 Grad Celsius Temperaturerhöhung und 60 mm weniger Jahresniederschlag, der sich zudem noch an den Rand der Vegetationsperiode verschiebt, prognostiziert werden, dann ist die Dringlichkeit der Situation zu erahnen. Daher gilt seit einigen Jahren verschiedenen Laubbaumarten vermehrte Aufmerksamkeit der Bezirksforstinspektion und anderer forstlicher Akteure. Im trockenen Oberinntal die Weichen für einen klimafitten Wald zu stellen, dafür brennt Andreas.
Eine weitere forstliche Herausforderung in Bezug auf den Paradigmenwechsel hin zu mehr Laubholz- und Tannenanteil in den Tiroler Wäldern sind die Schäden durch Wildverbiss. Erhöhte Wildbestände, die weit weniger mediale Aufmerksamkeit erhalten als Wolf und Bär, sorgen dafür, dass sich die vom Wild geschätzte Weiß-Tanne und Laubgehölze sich oft natürlich kaum verjüngen können. Hier im Stamser Eichenwald hat man das Problem kleinflächig durch Umzäunungen gelöst – an den meisten Standorten ist ein solches Vorgehen aber zu teuer. Auf einem Spaziergang gehen wir die wichtigsten Laubbaumarten dieses Standortes durch. Namensgebend für das Schutzgebiet und den Blick bestimmend ist die Stiel-Eiche. Auch einige Winter-Linden erreichen hier majestätische Ausmaße. Im vielfältigen Unterholz beschäftigen wir uns mit den Unterscheidungsmerkmalen von Sommer-Linde, Gemeiner Esche, Berg-Ahorn, Traubenkirsche, Faulbaum, Grau-Erle, Berg-Ulme, Haselnuss, Walnuss und Vogelbeere/Eberesche. Im schattigen Unterholz bedeckt der sonst seltene Straußenfarn ganze Waldbereiche. Wo pflanzliche Vielfalt herrscht, ist es meistens auch um die tierische Biodiversität gut bestellt. Die alten Bäume sind wertvoll für viele höhlenbrütende Vogelarten, und im durch Pilzbefall zermürbten Totholz, vor allem von Eichen, können sich die Larven des Hirschkäfers entwickeln. Dieser in Tirol außerordentlich seltenen Insektenart wurde im Stamser Eichenwald sogar ein eigenes Wiederansiedelungsprojekt gewidmet. Auf sonnigeren Rand- und Verjüngungsflächen hingegen befindet sich der Naturschutz in der Defensive: Wir stoßen wir auf zwei Vertreter der berüchtigten invasiven Neophyten. Die Kanadische Goldrute und das Drüsige oder Indische Springkraut starten zu dieser Jahreszeit in ihr explosives Wachstum während der Vegetationsphase, das die Bewirtschafter*innen vielerorts vor Herausforderungen stellt.
Zum Einchecken und Abendessen im freundlichen Hotel Tauferberg im Niederthai bleibt nicht so viel Zeit, denn am Abend sind wir noch mit Mag. Thomas Schmarda, Geschäftsführer des Naturpark Ötztal, verabredet. Er hat einen bildgewaltigen Vortrag vorbereitet, mit dem er uns die Besonderheiten und Höhepunkte des Naturpark-Gebiets näherbringt. Die liebevoll gestaltete Dauerausstellung mit vielen naturkundlichen Schnitzobjekten begeistert die Kursteilnehmer*innen – und macht auch Thomas noch sichtlich stolz.
Am Freitag geht es von einem bekannten Bergsturzgelände zum nächsten: Vom gigantischen Köfels-Bergsturz, der das Landschaftsbild um unser Quartier bestimmt, geht es in Bereiche, die durch den Tschirgant-Bergsturz vor etwa 3.000 Jahren dauerhaft geprägt worden sind. Für die Beschäftigung mit Wald- und Naturpädagogik haben wir mit dem Sautener Forchet, einem von knorrigen Rot-Föhren bestimmten blumenreichen lichten Wald am Eingang des Ötztals, ein ideales Gelände gefunden. Dr. Johannes Rüdisser vom Institut für Ökologie der Universität Innsbruck hat neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch weitläufige Erfahrungen im Bereich der Umweltbildung und Naturvermittlung gemacht, von Schulklassenführungen mit natopia bis hin zur Entwicklung und Begleitung neuer Umweltbildungsprojekte. Ziel des Tagesworkshops ist es, Impulse für die naturpädagogische Arbeit mit Gruppen von Kindern und Erwachsenen zu bieten. Es handelt sich dabei um erlebnis- und erfahrungsorientierte Zugänge, bei denen die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten in ein breites Sammelsurium von Methoden eingebunden ist. Die Teilnehmer*innen werden eingeladen, sich auf die Aktionen einzulassen, sie im Probedurchlauf zu genießen und von der Möglichkeit dieser Innenperspektive zu profitieren – eine wichtige Basis für jene, die ähnliche Methoden in ihrer Arbeit mit Gruppen anzuwenden gedenken. Johannes betont auch, dass sich die Eignung und Notwendigkeit von Natur- und Waldpädagogik gewiss nicht auf Kinder als Zielgruppe beschränkt: Der Tag wird ihm Recht geben! Es wird gerannt, gespielt, gerochen, gelauscht, gebastelt und gelacht… und dazwischen gibt es immer wieder Gelegenheit, das Erlebte einzuordnen, zu reflektieren und auf die Verwendbarkeit für die eigene Tätigkeit hin zu prüfen.
Der Vormittag steht ganz im Zeichen der Sinneswahrnehmung. Nach einer kurzen Tiernamenrunde zu Beginn gilt es beim Waldmemory, sich möglichst viele Naturgegenstände zu merken und in der nahen Umgebung wiederzufinden. Diese werden anschließend besprochen und von der Gruppe zu einem Mandala aufgelegt – ein biologisch abbaubares Naturkunstwerk, in konzentrischen Kreisen angeordnet. Der anschließende Tarnpfad erfordert höchste Konzentration, um so viele getarnte Kunststofftierchen wie möglich in der Vegetation zu erspähen. Außerdem ist die Temporeduktion eine ideale Vorbereitung für die nächsten Aktivitäten, bei der eine Person im Zweierteam die andere mit verbundenen Augen vorsichtig durch das unwegsame Gelände führt. Zuerst geht es darum, einen ausgiebig ertasteten Baum im Anschluss mit offenen Augen unter vielen ähnlichen wiederzuerkennen. Anschließend führt ein*e Fotograf*in ihre/seine menschliche Kamera spazieren und stellt sie auf verschiedene Naturschnappschüsse ein. „Ohren weit auf!“ heißt es bei der Geräuschelandkarte. Während einer meditativ wirkenden Ruhephase werden alle wahrgenommenen Geräusche auf einem Stück Papier vermerkt – eine Einladung, einmal genauer als üblich hinzuhören, und die Hintergrundgeräusche die Hauptrolle einnehmen zu lassen. Abschließend wird das Erlebte in der Gruppe reflektiert und die Eignung verschiedener Methoden in unterschiedlichen Kontexten diskutiert. Vor der Mittagspause wird noch das Konzept „Flow Learning“ des US-amerikanischen Naturpädagogik-Pioniers Joseph Cornell vorgestellt – es bildete das konzeptuelle Gerippe hinter der durchdachten Abfolge von Methoden, die den Teilnehmer*innen einen kurzweiligen, erholsamen und doch lehrreichen Vormittag boten.
Weiter geht’s am Nachmittag im Zeichen der Schmetterlinge: Johannes stellt das Projekt „Viel-Falter“ (Monitoring heimischer Tagfalter unter Miteinbeziehung interessierter Laien) vor und lädt zu einem einfachen Spiel daraus ein, bei dem die wichtigsten heimischen Tagfalterarten mühelos vermittelt werden. In weiterer und heiterer Folge werden die Teilnehmer*innen in einer Reihe von Naturerlebnisspielen in Eulen, Krähen, Amseln, Fledermäuse und Nachtfalter verwandelt. Wir nehmen einen prall gefüllten Methodenkoffer für die Bereicherung der eigenen Tätigkeit mit verschiedenen Zielgruppen mit.
Botaniker Mag. Christian Anich vom Tiroler Landesmuseum lenkt unsere Aufmerksamkeit am Samstag Vormittag auf eine Pflanzengruppe, die oft stiefmütterlich und verallgemeinernd behandelt wird. Erst auf den zweiten Blick und mit Hilfe einiger wichtiger Hinweise vom Experten in Bezug auf Unterscheidungsmerkmale tritt in den grünen Moospolstern eine Vielfalt zutage, die den meisten bisher verborgen blieb. Aufgrund ihrer Lebensweise sind Moose sehr stresstolerant und können schwierige Standorte, etwa mit angespanntem Wasserhaushalt, besiedeln. Wir besprechen gleich zu Beginn die wichtigsten Unterschiede zu den Samenpflanzen in Aufbau und Vermehrung. In einer Einführungsübung wird der genaue Blick geschult, den wir später im Gelände noch brauchen werden. Anhand verschiedener Fotos und Detailaufnahmen sollen Paare mit der selben Moosart auf ihrer Karte zusammenfinden. Die Vielfalt der von Christian mitgebrachten und im Bergsturzgelände am Tauferberg vorkommenden Moose ist faszinierend, jedoch ist es auf Anhieb auch mit Lupe gar nicht leicht, die vielen neu erlernten Arten sicher und richtig zu bestimmen und wiederzufinden. Dennoch leistet die motivierte Gruppe schon auf Anhieb Großartiges und erlaubt sich kaum einen Fehltritt.
Also entscheiden wir uns, den Blick zu fokussieren, und stellen eine Liste der häufigsten und bedeutendsten heimischen Arten auf, die auch Laien gut wiedererkennen können. Mit Lupen ausgerüstet machen wir uns auf die Suche im Bergsturzgelände, später können die Arten auf Klebekärtchen „herbarisiert“ werden. Die in den moorigen Bereichen am Hangfuß vorkommenden Torfmoose und ihre kulturgeschichtliche und ökologische Bedeutung sind uns bereits im ersten Modul begegnet. Aus dem Haarmützenmoos wurden früher sogar als Schiffstaue verwendete Mooszöpfe geflochten. Das Etagenmoos macht mit seinen stockwerkartigen Jahrestrieben seinem Namen alle Ehre und hat damit einen sehr hohen Wiedererkennungswert. Schlafmoose besiedeln oft mattenartig die Basis von Baumstämmen und laden zum Verweilen ein. Der an lichteren Standorten vorkommende Große Runzelbruder hingegen raschelt beim Betreten und ist daher auch als Raschelmoos bekannt – wir machen gleich die Hörprobe! Zur Gattung der Kammmoose gehört unter anderem das Straußenfedermoos. Die Gabelzahnmoose bilden in der Regel große Polster, während manche Lebermoose, die man oft in Quellbereichen findet, vom Habitus her eher an Flechten erinnern. Ihr Name kommt aus der Tradition der Signaturenlehre („Ähnliches heilt Ähnliches“) – heute ist die Bedeutung von Moosen in der Medizin allerdings als gering einzustufen. Umso wertvoller ist ihre ökologische Rolle als Pionierbesiedler. Von unmittelbarer Bedeutung für den Menschen: Durch ihre ausgeprägte Fähigkeit zur Wasserspeicherung bilden sie einen natürlichen Hochwasserschutz und können sowohl Niederschlags- als auch Temperaturextreme abpuffern. Auch die sinnliche Erfahrung eines Moosbettes im Wald an einem warmen Sommertag ist unbezahlbar.
Den Nachmittag mit Forstkundler und Botaniker Mag. Ing. Manfred Hotter verbringen wir wieder an verschiedenen Waldstandorten am Tauferberg. Diesmal gilt unsere Aufmerksamkeit jedoch in erster Linie den so genannten höheren Pflanzen und ihrer Ökologie. In einer Einführung erfahren wir, welche Faktoren dazu führen, dass sich unter natürlichen Bedingungen je nach Standort spezifische Waldgesellschaften ausbilden. Diese kennzeichnen sich jeweils durch eine typische Baumarten- und Unterwuchszusammensetzung. Was die klimatischen Wuchsgebiete betrifft, gibt es die grobe Unterscheidung zwischen den niederschlagsreicheren Randalpen und den trockeneren inneralpinen Zonen mit größeren Temperaturschwankungen. Diese großräumigen Klimafaktoren bedingen die potentielle natürliche Verbreitung der Hauptbaumarten in Tirol. Der aktuelle Flächenanteil ist natürlich zusätzlich stark von der historischen und aktuellen forstwirtschaftlichen Nutzung beeinflusst (Fichte 58%, Lärche 7%, Buche 5%, Kiefer 4%, Tanne 3%, Zirbe 2%). Insgesamt kommt Tirol auf 9 heimische Nadelbaum- und 37 Laubbaumarten. Eine spielerische Wiederholung der wichtigsten besprochenen Baumarten zeigt, dass sich die Gruppe bezüglich Baum- und Strauchartenkenntnis schon auf einem sehr guten Weg befindet.
Neben den das Landschaftsbild bestimmenden Hauptbaumarten kommen wir auch auf bis in Höhenlagen vorkommende Pionierarten wie Hänge-Birke und Vogelbeere zu sprechen, sowie auf Lawinenstrich-Spezialisten wie Grün-Erle und Latschen-Kiefer. In einem von Himbeeren dominierten Graben lernen wir, dass Eichen- und Buchenfarn trotz trügerischer Namen nicht auf die Laubwälder der Tieflagen beschränkt sind. Auch den Gebirgs-Frauenfarn wissen wir nun vom Wurmfarn oder Männerfarn zu unterscheiden, Eselsbrücken sei Dank! Im weiteren Verlauf der Exkursion nehmen wir den Boden im Blockwald genauer ins Visier. Die Böschung am Wegrand erlaubt genauere Einblicke – es wird deutlich, dass sich auf dem sauren Ausgangsgestein erst eine geringmächtige Podsol-Auflage gebildet hat. Unter diesen Bedingungen dominieren verschiedene Zwergsträucher aus der Familie der Heidekrautgewächse den Waldunterwuchs. Die Preiselbeere erkennen wir anhand der ledrigen Blätter und hübschen Blüten wieder, bei der Heidelbeere sind die grünen Stängel ein wichtiges Bestimmungsmerkmal. Am höchsten Punkt der Wanderung angekommen nutzen wir den Ausblick, um nochmal die Höhenstufen des Waldes zu verdeutlichen. Unser Blick reicht bis hoch zur subalpinen Wald- und Baumgrenze, welche im Alpenraum durch die Almbewirtschaftung in den meisten Lagen vom Menschen nach unten gedrückt wurde. Vom anderen Ende des Spektrums hat Manfred ein Souvenir im Rucksack mitgebracht – an sonnenexponierten Hanglagen im äußeren Ötztal fühlt sich die wärmeliebende Trauben-Eiche wohl.
Kein Lebensraum eignet sich so gut zur Verdeutlichung und direkten Beobachtung der Kreisläufe des Lebens wie der Wald. Auf engstem Raum treffen zumindest in naturnahen Wäldern Geburt und Tod, Wachstum und Sterben, Zersetzung und Erneuerung aufeinander. Mit den Tiergruppen, die maßgeblich an diesen Prozessen beteiligt sind, haben wir uns schon im Karwendel beschäftigt. Daneben spielen Pilze eine bedeutende Rolle in diesen Stoff- und Energiekreisläufen. Während wenige bekannte Speisepilze wie Steinpilz und Pfifferling sich großer Bekanntheit erfreuen, und einige Arten wie der giftige Fliegenpilz oder der potentiell tödliche Grüne Knollenblätterpilz als Kuriositäten bekannt sind, führen die meisten Arten des Waldes ein Schattendasein außerhalb unserer Wahrnehmung. Mykologe (Pilzexperte) Mag. Eberhard Steiner von den Tiroler Universitätskliniken verbringt den Sonntag mit uns, um Licht in dieses Dunkel zu bringen. Er versteht es, unscheinbare und weniger auffällige Arten mit spannenden Geschichten und viel Humor zu vermitteln. Auch gibt es allerlei Interessantes über Lebensweise und Ökologie der Pilze zu erzählen, noch bevor überhaupt auf einzelne Arten eingegangen wird. Bei der nachmittäglichen Exkursion wird dann schnell klar, dass es mehr als nur Risotto-Zutaten zu entdecken gibt.
Davor aber gibt es noch eine ausführliche Einführung in die faszinierende Welt der Pilze und Flechten. Mit allerlei Anschauungsmaterial im Gepäck sorgt Eberhard für so manchen Aha-Moment. Wurden vor einigen Jahrzehnten Pilze in der Biologie noch als Pflanzen ohne Chlorophyll (Blattgrün) kategorisiert, bilden sie mittlerweile neben den Tieren und Pflanzen ein eigenes drittes Reich innerhalb der sogenannten eukaryotischen Lebensformen (darunter versteht man Lebewesen mit einem echten Zellkern, im Unterschied zu den prokaryotischen Bakterien und Archeen). Die Verwandtschaft mit den Tieren ist sogar enger als jene mit den Pflanzen. Viele Eigenschaften teilen sie mit ersteren (Ernährung durch organische Nährstoffe ihrer Umgebung, Glykogen als Speicherstoff), andere wiederum mit Pflanzen (Vorhandensein von Zellwänden und Vakuolen). Außerdem erfahren die Teilnehmer*innen Grundlagen zur Lebensweise, Vermehrung, Nutzung und kulturgeschichtlichen Bedeutung von Pilzen. Immer wieder werden angemessene Antworten auf die bei Pilzexkursionen am häufigsten auftauchenden Fragen diskutiert.
Optisch und auch haptisch beeindruckend sind die Baumpilze, die Eberhard als Anschauungsmaterial mitgebracht hat. Der bekannte, aber bei uns recht seltene Zunderschwamm ist auf geschwächten Buchen- oder Birkenstämmen zu finden, sowie zusammen mit dem Birkenporling in Ötzis Transalp-Gepäck. Den häufigeren, aber nicht minder beeindruckenden Rotrandigen Baumschwamm oder Fichtenporling findet man in Tirol häufiger. Der als Apothekerpilz bekannte Lärchenbaumschwamm wurde früher zur Herstellung von Medizin verwendet und war sehr geschätzt.
Vom vorübergehenden Wintereinbruch in Niederthai lassen wir uns nicht aufhalten. Im Zuge der Exkursion am Nachmittag beschäftigen wir uns auch mit Flechten. Diese Bezeichnung steht für eine symbiotische Lebensgemeinschaft zwischen einem oder mehreren Pilzen und einer oder mehreren Photosynthese betreibenden Partnerarten (diese Rolle nehmen Grünalgen oder Cyanobakterien/Blaualgen ein). In der biologischen Systematik werden sie zwar im Reich der Pilze geführt, nehmen dort aber als eigene Lebensform eine Sonderstellung ein. Der Pilz bildet mit einem Geflecht aus Pilzfäden (Hyphen) den Körper der Flechte, innerhalb dessen die Photosynthese betreibenden und somit den Pilz miternährenden Algenpartner vergleichsweise gute Lebensbedingungen vorfinden – eine klare Win-Win-Situation. Ihr spezieller Aufbau und Stoffwechsel ermöglicht es Flechten, Lebensräume und Kleinstandorte mit schwierigen Bedingungen zu besiedeln und lange Zeit unter Extrembedingungen zu überdauern (im Versuch überlebten sie sogar zwei Wochen im All!). Bei einer kurzen Suchaktion im Bergwald tritt gleich eine beeindruckende Formen- und Farbenvielfalt von Flechtenarten zutage. Wir treffen auf eine Reihe verschiedener, schwer zu bestimmender Arten von Krustenflechten auf der Oberfläche von Steinen. Die bekannte Landkartenflechte ist die auffälligste davon. Aufgrund ihres regelmäßigen Wachstums wird sie in der Gletscher- und Klimaforschung sogar für Datierungen verwendet – sie zeigt etwa an, wie lange ein Fels mindestens schon eisfrei sein muss. Häufig in der Formgruppe der Strauchflechten sind die Baumbärte der Gattung Usnea, Indikatoren für Luftgüte, und die Rentierflechten der Gattung Cladonia. Auch die Gabelflechte lernen wir zu erkennen. Die Wolfsflechte mit ihrer für Säugetiere giftigen Vulpinsäure wurde für Vergiftungszwecke eingesetzt. Für Heilzwecke hingegen wird das so genannte Isländisch Moos verwendet – der Name trügt, auch dabei handelt es sich um eine Flechte. Der Blick durch die Lupe offenbart erst richtig die Schönheit im Kleinen der Gelben Schüsselflechte.
Auch wenn wir deutlich außerhalb der Speisepilz-Saison unterwegs sind, offenbart das genauere Hinsehen interessante Pilzarten. Der Vertreter der Schleimpilze ruft zwar gemischte Gefühle zwischen Staunen und Ekel hervor, der Lebenszyklus ist aber allemal faszinierend! Ein junges Exemplar des Schuppigen Sägeblättlings prägt sich mit seiner phallusartigen Erscheinung ins Gedächtnis, und gesellt sich mit Bovist und Tintling in die Reihe der gefundenen und besprochenen Arten. Auf den morschen Nadelholzstümpfen des Bergwaldes findet sich der Gesellige Glöckchennabeling in großer Anzahl. Zum Abschluss gibt es noch Literaturempfehlungen vom Profi zur Vertiefung zuhause.
Vorübergehend mag es einigen im Kurs so ergehen, dass sie bei dem ganzen Input den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Doch zweifelsohne sind das viele neue Wissen und die verschiedenen erworbenen Blickwinkel eine Einladung, achtsam und entschleunigt durch den Wald zu spazieren, und das Waldwissen stetig auszubauen und zu festigen. Dafür nehmen wir uns die Kraft und Beständigkeit des Stuibenfalls, den wir am Freitag Abend genießen konnten, als prägende Erinnerung aus Niederthai mit nach Hause. Danke an das Team vom Hotel Tauferberg und alle anderen, die zu unserem angenehmen Aufenthalt hier beigetragen haben.