Vielfalt unter der Sonne – Tiroler Naturführer:innenkurs im Naturpark Kaunergrat, 8.-11. Juni 2023
Der Naturpark Kaunergrat ist bekannt für seine Vielfalt an Lebensräumen, insbesondere für die artenreiche Kulturlandschaft des Natura2000-Naturschutzgebietes „Fließer Sonnenhänge“. Das für Tiroler Verhältnisse warme und trockene Klima und der weitgehende Verzicht auf landwirtschaftliche Intensivierung der Flächen haben dazu geführt, dass die Trockenrasen und -wiesen vielfältige Pflanzengemeinschaften und eine reiche Insektenfauna (besonders Schmetterlinge und Heuschrecken) beheimaten. Ein idealer Standort also für unser Modul Wiese.
Am Donnerstag Vormittag sind wir im Piller Moor unterwegs, ein naturkundliches Highlight nahe des Naturparkhauses etwa 500 Höhenmeter über Fließ. Gemeinsam mit zahlreichen kleineren Mooren und Feuchtgebieten bildet es einen ausgedehnten Moorkomplex am Piller Sattel. Der Biologe Philipp Kirschner führt uns rund ums Moor. Beim Moorturm, welcher einen wunderschönen Panoramablick und die Vogelperspektive über das Moor erlaubt, beschäftigen wir uns mit der nacheiszeitlichen Entstehungsgeschichte von Mooren. Ombrogene (nur vom Niederschlag direkt gespeiste) Hochmoore sind in Tirol rar, und damit sind auch die an diesen Lebensraum angepassten Spezialisten selten. Die vier am Piller Moor vorkommenden fleischfressenden Pflanzen stehen daher allesamt unter Naturschutz: der Rundblättrige und Langblättrige Sonnentau, das Gemeine Fettkraut und der aquatisch lebende Gewöhnliche Wasserschlauch. Beim Einstieg in den Hochmoor-Bereich fällt auf, dass viele der in Assoziation mit den Torfmoosen vorkommenden hochspezialisierten Arten zur Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae) gehören: Besenheide, Rauschbeere, Moosbeere und Rosmarinheide. Deren ericoide Mykorrhiza, eine Spezialform der symbiontischen Wurzelpartnerschaft zwischen Pilzen und Pflanzen, stellt eine weitere bemerkenswerte Anpasssung an die mineralstoffarmen und sauren Bedingungen dar. Außerhalb des Latschen-Hochmoors stoßen wir auf die Schönheiten Mehlprimel und Fieberklee.
Auch der an das Moor angrenzende Bergwald hat einiges zu bieten. An einem Zirbenstamm fallen die Ringelspuren des seltenen Dreizehenspechtes auf. Der Kiefernschwärmer ist zwar gut getarnt, doch unserem Forscherblick entgeht er nicht – genausowenig wie der unscheinbare Eingang der Rossameisen am Fuß einer Fichte. Der Blick über den aufgelassenen Torfstich lädt zu historischen Exkursen ein: die Gründe, aufgrund derer Moore entwässert und Torf abgebaut werden, sind vielfältig, galten sie doch dem utilitaristisch denkenden Menschen unseres Kulturkreises als wenig produktiver und nicht landwirtschaftlich nutzbarer Naturraum. Während in waldarmen Gegenden Torf auch als Heizmittel verwendet wurde, war er in der Gegend rund um den Piller Sattel in erster Linie als Gartensubstrat gefragt. Seit einigen Jahrzehnten findet zumindest in Mitteleuropa eine Trendumkehr statt, und viele der wenigen verbleibenden Moorflächen und Feuchtgebiete sind mittlerweile geschützt. Erstens wird die Rolle von Spezialstandorten für die Erhaltung der Biodiversität heute höher bewertet, und zweitens ist das Verständnis für die vielfältigen ökologischen Funktionen der Moore, die auch uns Menschen stark zugute kommen, gewachsen. Beispielhaft seien der natürliche Hochwasserschutz („Schwammeffekt“ in der Landschaft) und die enorme Bedeutung der Torfmassen als Speicher im globalen Kohlenstoffkreislauf genannt – wirksamer Klimaschutz muss den Stellenwert der Moore in der weltweiten Kohlendioxid-Bilanz unbedingt mitberücksichtigen.
Der in den 70er Jahren aufgelassene Torfstich konfrontiert uns mit einem Paradoxon. Einerseits sind die Flächen durch die historische Entwässerung und das Abtragen meterdicker Torfschichten stark degradiert und haben viel von ihrer ursprünglichen biologischen Wertigkeit verloren. Andererseits haben manche seltene Arten die neuen Bedingungen zu schätzen gelernt: Für Libellen wie die von uns gefangene Falkenlibelle sind die Wassergräben geeignet für die Larvenentwicklung. Ein zweites Exemplar hingegen ist gerade eben geschlüpft und bereitet sich neben der verlassenen Exuvie auf den ersten Flug vor. Philipp nutzt diesen Bereich bei seinen Führungen mit Kindern und Erwachsenen besonders gerne für aktives Erforschen der wirbellosen Fauna. Auch wir lassen uns gerne dazu einladen und machen mit einfacher Sammelausrüstung eine Jägerin zur Gejagten: Das Objekt unserer Forscherbegierde ist die auffallend große Gerandete Jagdspinne, welche nach wenigen Minuten in der Becherlupe landet. Im Anschluss an die Moorführung machen wir in wenigen Minuten einen Temperatursprung. Im 500 Höhenmeter tiefer gelegenen Fließ ist es bereits sommerlicher, und die deutlich weiter fortgeschrittene Wiesenvegetation begrüßt uns mit einem Meer aus Farben.
Den Nachmittag starten wir mit Bildern, die fast aus einer anderen Welt zu kommen scheinen. Der pensionierte Biologielehrer Hubert Salzburger hat neben dem Imkern, Gärtnern und der Naturkunde im Allgemeinen eine besondere Leidenschaft für die Makrofotografie von Blüten und deren Besuchern. Es ist aber nicht nur die ästhetische Schönheit, die Hubert dabei anzieht, sondern auch das Studium und Verständnis der faszinierenden Wechselbeziehungen zwischen Blütenpflanzen und ihren Bestäubern – eines der offensichtlichsten und bekanntesten Beispiele für Co-Evolution. Wir sind es gewohnt, das Thema Bestäubung sofort mit der Honigbiene in Verbindung zu bringen. Oft wird dabei vergessen, dass eine Vielzahl von Insektengruppen diese ökologische Funktion übernimmt: Wildbienen (mehr als 600 Arten in Österreich!), Schmetterlinge, Fliegen, Mücken, Wespen, Ameisen und Käfer sind an jeweils unterschiedliche Blütenformen angepasst. Die Form eines bestimmten Blütentyps erlaubt also Rückschlüsse auf die Anatomie und das Verhalten der jeweiligen Bestäuber. „Sag mir, wie du aussiehst, und ich sage dir, wer dich bestäubt“, behauptet Hubert. Für die auffälligen und großen Scheibenblüten verwendet er gerne die Analogie des Fast-Food-Restaurants (viel Werbung, alle willkommen), während die Röhrenblütenform mit ihrer erschwerten Zugänglichkeit zum Nektar eher das Bild eines exklusiven Feinschmeckerlokals aufkommen lässt (langer Rüssel als „Eintrittskarte“). Auch Schalenblüten, Lippenblüten, Glockenblüten und Stieltellerblüten haben jeweils Vor- und Nachteile und komplexe Wechselbeziehungen mit ihren Bestäubern. Doch nicht immer muss die Interaktion von beiden Parteien gewollt sein: Wir erfahren vom „Insekten-Kidnapping“ des Aronstabes und dem „Nektardiebstahl“ durch Hummeln.
Die kurze Exkursion durch die Sonnenhänge im Anschluss an den Bildervortrag ist voll von kleinen Geschichten und Experimenten zum Vorzeigen. Mit Gutem Heinrich und Brennnessel ist der Wildgemüse-Tisch gut gedeckt. Am Wiesensalbei testen wir den Hebelmechanismus zur Pollenabgabe, der sonst meistens von Hummeln ausgelöst wird. Auch die Verwendung von Wolfsmilchsaft als „Seifenblase“ ist eine tolle Auflockerung für jede Naturführung. Wir werden dazu motiviert, in Zukunft noch eine Stufe genauer hinzuschauen – ganz nach dem Vorbild von Huberts Makroobjektiv.
Am Abend genießen wir das großartige Panorama vom „Gachen Blick“ aus und betrachten Fließ aus der Vogelperspektive, während uns Philipp Kirschner einen Überblick über den Naturpark Kaunergrat gewährt. Der „Landkartenteppich“ im Eingangsbereich des Naturparkhauses hilft später bei der Orientierung. Das naturkundliche Potential der Gegend können wir nach dem ersten Tag in der Gegend schon gut erahnen, eine beeindruckende Zahl untermauert das Bauchgefühl: über 1.000 verschiedene Schmetterlingsarten wurden alleine auf den Fließer Sonnenhängen gezählt! Die gelungene und informative Naturpark-Dauerausstellung bietet einen entspannten Tagesausklang.
Am zweiten Tag mit Botanikerin Cäcilia Lechner-Pagitz steht eine entschleunigte Wiesenwanderung auf dem Programm. Die ehemaligen Ackerterassen in Dorfnähe werden heutzutage vor allem als Grünland bewirtschaftet, und das trockene Zeitfenster im Juni nutzen viele Landwirte für die Mahd oder das Einfahren der Heuernte. Daher entscheiden wir uns für eine Fahrt zur Talstation der alten Vennetbahn – diese ist von noch ungemähten und artenreichen Bergmähdern umgeben. Neben der Erweiterung der Artenkenntnis ist ein Exkursionsziel, eine Sensibilität für die differenzierte Unterscheidung von Wiesen, Weiden und Rasen zu schaffen – jener Landschaftselemente, die über Jahrhunderte und Jahrtausende durch menschlichen Einfluss entstanden sind. Nur ein vergleichsweise kleiner Teil der in der Tiroler Landschaft existierenden offenen Flächen ist primäres Grasland, etwa die alpinen Rasen oberhalb der Baumgrenze oder Niedermoore. Sekundäres Grünland ist durch menschliche Einflussnahme entstanden (ursprünglich Rodung) und bedarf einer kontinuierlichen Bewirtschaftung durch Beweidung oder Mahd, wenn eine Verbuschung verhindert werden soll. Bei ersterer Bewirtschaftungsform spricht mensch von Weiden, bei zweiterer von Wiesen.
Zu Beginn setzen wir uns anhand einiger Beispiele am Waldrand mit botanischen Grundbegriffen auseinander. An der Roten Lichtnelke begreifen wir Zweihäusigkeit im wahrsten Sinne des Wortes, und unter der Lupe erforschen wir Nektarblatt und Saftmale beim Hahnenfuß. Pestwurz und Huflattich lernen wir an der unterschiedlichen Anordnung der Leitbündel zu unterschieden. Etwas weiter vorne am Wegesrand wird an einem Hangmoor deutlich, dass nicht nur Trockenheit artenreiche und biologisch interessante Sonderstandorte zu schaffen vermag. Aus dem von den noch nicht blühenden Wollgräsern dominierten feuchten Wiesenabschnitt leuchten die purpurnen Blüten des Breitblättrigen Knabenkrauts besonders intensiv heraus. Am Wegesrand trotzen der windblütige Breit- und Spitzwegerich und der buntere, von Insekten bestäubte Mittlere Wegerich dem verdichteten Boden. Etwas seltener ist der Schlangen-Wegerich. Während die Heulader das Schönwetterfenster nutzen, um das erste Bergheu ins Tal zu bringen, lernen wir mit Bibernelle, Echtem Kümmel, Gewöhnlichem Wundklee und dem Halbschmarotzer Großer Klappertopf typische Pflanzenarten der Mähwiesen kennen. Das Kleine Stiefmütterchen sorgt für ein eindrucksvolles Farbenspiel – aus dem meist überdüngtem Grünland tieferer Lagen hat sich diese Schönheit längst verabschiedet. Was wäre jedoch eine Mähwiese ohne die wegen ihrer Futterqualität geschätzten Gräser? Aufgrund ihrer Unscheinbarkeit oft wenig beachtet, machen sie den Großteil der Biomasse im Grünland aus. Bewaffnet mit den Grundbegriffen Halm, Knoten, Blattscheide, Blattspreite und Blütenstand machen wir uns an eine Bestimmungsübung und nehmen Knäuelgras, Wiesen-Rispengras, Flaumhafer und Zittergras unter die Lupe. Im Gegensatz zu den Süßgräsern der Futterwiesen haben die Sauergräser (zum Beispiel Seggen, die artenreichste heimische Pflanzengattung) keine Knoten und einen meist spürbar dreikantigen Stängel, während die Binsen durch behaarte Blätter gekennzeichnet sind.
Wer sich mit essbaren Pflanzen und Heilkräutern beschäftigen möchte, sollte auch über Verwechslungsmöglichkeiten und Giftpflanzen gut informiert sein. Wir lernen den volksmedizinisch geschätzten Acker-Schachtelhalm vom giftigen Sumpf-Schachtelhalm und dem Wald-Schachtelhalm zu unterscheiden. In einem feuchten Wiesenabschnitt leuchtet die giftige Trollblume, aber so richtig giftig gefährlich wird’s erst mit dem Blauen Eisenhut – hier nimmt Cäcilia vorsichtshalber ein Taschentuch zur Hand, um nicht mit dem potentiell tödlichen Giftstoff Aconitin in Berührung zu kommen. Meisterwurz, Gewöhnlicher Frauenmantel und Arnika hingegen sind Beispiele für Arten mit einer langen Verwendungsgeschichte, die sich bis in die Moderne erhalten hat. Einige hundert Meter bergwärts finden wir am Waldrand einen Wiesenabschnitt, der sich in Hinsicht Wüchsigkeit und Artenzusammensetzung deutlich von den bisher durchwanderten Bergmähdern abhebt. Eine geringere Bodenmächtigkeit und saurere Bedingungen kommen hier der Schwefel-Anemone, Mausohr-Habichtskraut und Gold-Pippau zugute. Auch Vertreter der Zwergstrauchheide wie Heidelbeere und Besenheide mischen sich darunter. Mit diesem Vorgeschmack auf das Gebirgsmodul in den Hohen Tauern und selbstgemachten Erinnerungskarten lassen wir die botanische Wanderung ausklingen. Wie es für Botaniker:innen und andere Naturliebhaber:innen üblich ist, haben wir keine große Strecke bewältigt – aber in der Annäherung an die Pflanzenkunde haben viele große Schritte gemacht.
Am Samstag suchen wir nochmal das Piller Moor und den umgebenden Bergwald auf. Die Biologin Silvia Hirsch, die lange im Alpenzoo Innsbruck tätig war, bietet der Gruppe mit partizipativen Methoden, die in erster Linie zu eigener Beobachtung und Beschäftigung ermutigen, einen Einstieg in die faszinierende Welt der heimischen Vögel. Zuerst werden die Unterschiede zwischen Gesang und Rufen abgesteckt. Ersterer dient unter anderem zum Anlocken von potentiellen Partnern und der Markierung des Reviers, zweitere umfassen Rufe zwischen Partnern, Warnrufe bei Gefahr und Bettelrufe hungriger Jungvögel.
Silvia empfiehlt, sich zum Einstieg mit wenigen Vogelarten, dafür aber intensiv zu beschäftigen. Eine ganze Vogelstimmen-Datenbank zuhause auswendig lernen zu wollen sei wenig zielführend. Wenn Auge, Ohr, Hirn und Herz offen sind für die Vögel zum Beispiel unserer unmittelbaren Wohnumgebung oder Spazierroute, dann ist die beste Basis für nachhaltiges und freudvolles Lernen geschaffen. Silvia versteht es jedenfalls, einen Samen der Begeisterung und Neugierde zu setzen, der vielleicht bei manchen Teilnehmer:innen ein gutes Substrat findet und zu einer intensiveren und aufmerksameren Beschäftigung mit der Vogelwelt wächst – ein nicht nur intellektuell, sondern auch emotional sehr befriedigender Zeitvertreib. Ornitholog:innen und Vogelfreund:innen verwenden oft kleine Merksätze zur Beschreibung der Gesänge und Rufe – manche übernehmen lieber die „Klassiker“, andere reimen sich ihre Eselsbrücken selbst zusammen. Nach dem Buchfink und seiner Frage nach dem „würzigen Bier“ hören wir auch den selbsterklärenden Zilpzalp und den maschinenartig kreischenden Tannenhäher (hier einigen wir uns darauf, dass die Zirbe der passendere Namensgeber wäre).
Der Zugang über die Vogelstimmen zum Erkennen oder Kartieren von Vögeln bietet sich deshalb an, da die Individuen oft klein, beweglich und in ihrem Lebensraum gut versteckt sind. Da hilft oft auch das beste Fernglas nicht mehr weiter! Wenn der Buchfink ganz oben am Baumwipfel trällert, geht er einen „trade-off“ ein: Einerseits ist der Gesang damit weiter zu hören, andererseits setzt sich der Vogel auch einem höheren Risiko aus, von Greifvögeln wie dem Habicht erwischt zu werden. Mit etwas Geduld und guter Beobachtungsgabe lassen sich den meisten Vogelarten auch die optischen Details und charakteristischen anatomischen Merkmale entlocken. Darum geht es bei der intensiven Beobachtungsaufgabe in Zweiergruppen. Sie bekommen den Auftrag, anhand der Hinweise eines speziell dafür gestalteten Arbeitsblattes einen Vogel der Wahl mit geschärften Sinnen und Fernglas besonders aufmerksam zu beobachten. Zusätzlich zu den oben erwähnten Arten werden somit auch die Tannenmeise und das winzig kleine Wintergoldhähnchen einer ganz genauen Betrachtung unterzogen.
Im Bergwald oberhalb des Torfstichs beschäftigen wir uns mit der Frage, wie auch scheuere Tiere, die wir selten bei Aktionen mit Gruppen zu Gesicht bekommen werden, Bestandteil einer lebendigen Naturführung voller interessanter Geschichten werden können. Ein Weg dahin führt über die verschiedenen charakteristischen Spuren und Hinterlassenschaften der Tiere. Größere Tiere hinterlassen auf vegetationslosem Untergrund Trittsiegel, und vor allem im Winter sind die Fährten von Tieren oft über weite Strecken zu verfolgen. Doch Tierspuren umfassen weit mehr als Fußabdrücke: Bei einer Suchaktion finden und fotografieren die Teilnehmer:innen Losungen verschiedener Arten. Fraßspuren von Eichhörnchen an Fichten- und Zirbenzapfen vergleichen wir mit jenen von Mäusen, Tannenhähern, Fichtenkreuzschnäbeln und Spechten. Letztere produzieren mit Spechtlöchern und Spechtschmieden zum Aufhacken der Zapfen besonders charakteristische Spuren im Gelände. Dem geschulten Auge entgehen auch die unscheinbaren „Ananasgallen“ von Fichtengallenläusen nicht, winzig kleine Tiere mit einem komplexen Lebenszyklus und Wirtswechsel zwischen Fichten und Lärchen. Abschließend verschaffen wir uns mit Hilfe der neu entwickelten Natopia-Tierspurenplane im XL-Format einen Überblick – hier sind Trittsiegel und Fährten der wichtigsten in Tirol vorkommenden Arten in Originalgröße abgebildet.
Am Nachmittag teilt Silvia ihre Expertise über heimische Säugetiere mit Hilfe einer bebilderten Präsentation und einem reichen Schatz an mitgebrachten Präparaten. Die verschiedenen Säugetierarten und -gruppen werden nach Lebensräumen gegliedert kurz vorgestellt. Wir starten unsere virtuelle Wanderung durch die Höhenstufen im Talboden mit den ans Wasser gebundenen Bibern und Fischottern und steigen schließlich auf bis zu den Gebirgspaarhufern Gämse und Alpensteinbock. Lange schneereiche Bergwinter wie der gerade ausklingende stellen diese Tiere vor große Herausforderungen. Den Gipfelrekord unter den alpinen Säugetieren hält die Schneemaus – sie besiedelt in den Alpen Höhenlagen bis zu 4.000 Metern! Mit den Präparaten zum Anfassen endet der Tag mit Silvia Hirsch, der ganz im Zeichen der heimischen Tierwelt stand. Eine tolle Gelegenheit, verschiedene Felle, Skelettteile, Vogelnester, -eier und -federn in Ruhe aus der Nähe zu betrachten.
Am Abend mit dem Entomologen (Insektenkundler) Kurt Lechner, der seit vielen Jahren den Natopia Erlebnisunterricht Insekten entwickelt und betreut, steht eine Sechsbeiner-Einführung auf dem Programm. Ziel ist es, genügend Grundverständnis zu vermitteln, um am nächsten Tag bei der Praxiseinheit auf den Fließer Sonnenhängen darauf aufbauen und Insekten eigenständig beobachten und bestimmen zu können. Wir tauchen ein in die faszinierende Welt der Insekten, die schon seit mindestens 400 Millionen Jahren die Erde bewohnen und schon alleine durch ihre Formen- und Artenvielfalt beeindrucken. Fast eine Million Insektenarten wurden bisher beschrieben (Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen Arten und mehr aus), damit verkörpern sie fast zwei Drittel des tierischen Artenreichtums. In Österreich gibt es etwa 37.000 Arten, mehr als im angrenzenden und flächenmäßig viel größeren Deutschland. Den Löwenanteil der Vielfalt stellen die Ordnungen der Käfer, Schmetterlinge, Hautflügler und Zweiflügler, wobei es besonders bei letzteren beiden Gruppen noch große Wissens- und Forschungslücken gibt. Anscheinend beschäftigen sich auch Wissenschaftler:innen lieber mit Schmetterlingen als mit Mücken! Jedes Jahr werden weltweit mehrere tausend Insektenarten neu beschrieben. Die traurige Seite der Vielfalt ist, dass jährlich im Zuge des anthropogenen („menschgemachten“) Massenaussterbens eine noch viel größere Zahl an Insekten für immer verschwindet. 40 Prozent aller Insektenarten sind laut einer australischen Metastudie vom Aussterben bedroht, und der Rückgang in den Populationsgrößen ist noch erschreckender. Viel internationale mediale Aufmerksamkeit hat die sogenannte „Krefeld-Studie“ erhalten, welche auf Biomasseaufnahmen fliegender Insekten in Schutzgebieten (!) über fast drei Jahrzehnte aufbaut. Die Biomasse fliegender Insekten hat im Beobachtungszeitraum um 76-81 Prozent abgenommen. Diese und andere Veröffentlichungen und Kampagnen haben dazu geführt, dass nach dem Klimawandel nun auch der weltweite Lebensraumverlust und Artensterben langsam in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rutscht. Nicht nur für Insektenfreunde, sondern für alle Menschen hat diese Entwicklung viel Gewicht. Insekten verarbeiten organisches Material, bestäuben 90 Prozent der Blütenpflanzen, sind an vielen Stellen in die Nahrungsnetze eingebunden und damit wichtige ökologische Regulatoren.
Im Anschluss an die allgemeine Einführung werden die wichtigsten Gruppen von Insekten kurz angesprochen, bevor der allgemeine Körperbau dieser Tiergruppe behandelt wird: der dreigeteilte Körper mit sechs Beinen am Brustteil (Thorax), die zeitlich hochauflösenden Facettenaugen (bestehend aus bis zu jeweils 30.000 Einzelaugen bei Libellen), die seitlichen Öffnungen des Tracheensystems zur Atmung und das Exoskelett (Panzer unter anderem aus Chitin), um nur einige Grundmerkmale zu nennen. Gegen Ende des Abends gelingt es Kurt, die langsam eintretende Müdigkeit mit tollen Präparaten heimischer und tropischer Insektenarten nochmal zu vertreiben.
Obwohl der Sonntagmorgen sich an den Fließer Sonnenhängen für die Jahreszeit noch eher kühl präsentiert, bauen wir unsere kleine mobile Forschungsstation in weiser Voraussicht im Schatten eines Baumes auf. Nicht nur wir profitieren vom Sonnenschutz, sondern auch die Insekten, die in kleinen Sammelgefäßen kurz zur Beobachtung aufbewahrt werden, bevor sie wieder krabbeln und fliegen dürfen. Für Schmetterlinge und andere Fluginsekten werden Kescher verwendet, Insekten und andere Gliederfüßer am Boden können direkt mit dem Sammelgefäß oder einer Becherlupe eingesammelt werden. Diese unmittelbare Beschäftigung mit Kleintieren weckt bei vielen Teilnehmer:innen große Begeisterung oder auch Kindheitserinnerungen. Mit einem nostalgischen Blick in die eigene Entdecker-Kindheit äußert Kurt seine Besorgnis darüber, dass sich immer weniger Kinder und auch Erwachsene aktiv mit anderen Lebewesen beschäftigen. Daher kommt auch die Motivation, über Umweltbildungsmaßnahmen an Schulen und mit anderen Gruppen diesen abgerissenen Verbindungen wieder neues Leben.
#
Aufgrund des zögerlichen Frühjahrs und der kühlen Morgenluft ist von den wärmeliebenden Fließer Top-Arten erstmal keine Spur. Unter den Schmetterlingen holen wir zuerst weit verbreitete Arten wir den Kleinen Fuchs, den Himmelblauen Bläuling und einen Mohrenfalter aus dem Kescher. Fast überall ist auch der kleine Gartenlaubkäfer zu finden, der ebenso wie der große grün glänzende Rosenkäfer zu den Blatthornkäfern gehört. Bienenwolf und Ameisen-Sackkäfer bieten spannende Käfergeschichten. Ein Vertreter der Schnellkäfer führt uns im Vorzeige-Experiment eindrucksvoll vor, wie diese Käfergruppe zu ihrem Namen kam. An der Großen Höckerschrecke und dem Gebirgs-Grashüpfer lässt sich die richtige Handhabe lebender Tiere gut demonstrieren – außerdem kann hier die Lauterzeugung durch Stridulationsorgane eindrucksvoll vorgeführt werden. Das Grüne Heupferd ist zwar schon sehr groß, aber noch im letzten Entwicklungsstadium (Nymphe). Den Kreislauf des Lebens neu beginnen lassen gerade die sich an einem Zaunpfosten paarenden Pappelschwärmer. Die Tiere sind zwar riesengroß, werden als Falter allerdings nur wenige Tage alt – der Saugrüssel ist reduziert, nur die Raupe nimmt Nahrung auf, das adulte Insekt zehrt von den Reserven.
Am späteren Vormittag kommt die Sonne durch und mit ihr auch die wärmeliebenden Arten. Aus der Ordnung der Schmetterlinge gehen uns gleich ein Trockenheit und Wärme liebender Mauerfuchs und der seltene Apollofalter ins Netz – eine Charakterart für die Fließer Sonnenhänge! Der ebenfalls typische Segelfalter und der geaderte Baumweißling grüßen im Vorbeifliegen, entgehen aber den schwingenden Keschern. Auch der sonnenliebende, kräftige und schnelle Berg-Sandlaufkäfer jagt jetzt am Weg. Auf Ameisen hat es der Ameisenlöwe mit seiner beeindruckenden Fangstrategie abgesehen. Wir wagen eine Raubtierfütterung und beobachten, wie die Ameise aus dem sandigen Fangtrichter nicht mehr entkommen kann und zur Nahrung für die Larve der Ameisenjungfer mit dem kuriosen Namen wird.
Am Nachmittag werden die wichtigsten Insektenordnungen und ihre Merkmale drinnen vertiefend besprochen. Beim anschließenden Quiz werden unbeschriftete Fotos und Präparate von Insekten systematisch den Ordnungen zugeteilt. Doch wie ein guter Zauberer hat sich Kurt für den Abschluss des Insektenmarathons einen ganz besonderen Höhepunkt aufbewahrt. Aus einer Box lässt er lebende Individuen tropischer Rieseninsekten aus seiner Sammlung krabbeln, freiwillige Teilnehmer:innen können sich auch selbst als temporärer Ast für Gespenstschrecke und Stabschrecken zur Verfügung stellen.
Wir verlassen Fließ nach vier lehr- und ereignisreichen Frühsommertagen und sind wieder einmal dazu motiviert, in Zukunft noch genauer hinzuschauen und zu -hören. Ein herzlicher Dank an den Naturpark Kaunergrat und die Gemeinde Fließ, Kerstin und Emil vom Cafe beim Gemeindezentrum und das Hotel Traube für die freundliche Bewirtung.