„Wiesenschaftler“ im Außerfern – Tiroler Naturfüherkurs Modul 3 in Elmen, Naturpark Lechtal, 6.-9. August 2020
Der Naturpark Tiroler Lech hat nicht nur einen Wildfluss von internationaler Bedeutung zu bieten, sondern auch eine zumindest gebietsweise arten- und strukturreich erhalten gebliebene Kulturlandschaft. Dazu mische man vier Tage strahlendes Sommerwetter, eine motivierte Gruppe und Top-ReferentInnen – und schon könnte man von einer „gmahntn Wiesn“ für das dritte Modul (Lebensraum Wiese) der Tiroler Naturführerausbildung sprechen. Bereits der erste Tag beginnt mit einer Kuriosität: Wir sind in der kleinsten Gemeinde Österreichs zu Gast! Gramais liegt in einem Seitental des Lechtals, eingenestet in eine dramatische alpine Landschaft mit schroffen Felswänden und tosenden Sturzbächen. Wir starten unsere kleine Wiesenwanderung mit Biologin und Botanik-Expertin Kerstin Blassnig am unteren Dorfende beim Heimatmuseum. Von dort aus wollen wir uns einen Überblick über die verschiedenen Typen von Grasland verschaffen, bevor wir mit geschärftem Bick durch die Kulturlandschaft ziehen.
Bei der ersten Übung geht es darum, sich im Gewirr der verschiedenen Begriffe, die mit Wiesen, Weiden und Rasen in Verbindung gebracht werden, zurechtzufinden. Wir erfahren, dass ein vergleichsweise kleiner Teil der in der Tiroler Landschaft existierenden offenen Flächen primäres Grasland ist, etwa die alpinen Rasen oberhalb der Baumgrenze sowie Trockenrasen und Niedermoore. Sekundäres Grünland ist durch menschliche Einflussnahme entstanden (ursprünglich Rodung) und bedarf einer kontinuierlichen Bewirtschaftung durch Beweidung oder Mahd, wenn eine Verbuschung verhindert werden soll. Bei ersterer Bewirtschaftungsform spricht man von Weiden, bei zweiterer von Wiesen. Der Begriff Rasen deutet auf eine ausgesprochen niederwüchsige Vegetation hin. Unsere Begriffsammlung reicht von Golfrasen über Almweiden bis hin zu Buckelwiesen.
Am ersten Standort können wir eindrucksvoll erkennen, dass es oft durch eine Beobachtung der vorherrschenden Wuchsformen möglich ist, eindeutige Rückschüsse auf Standorteigenschaften zu ziehen. Die Hochstaudenflur in der steilen Straßenböschung ist dauerhaft gut mit Wasser versorgt, die Pflanzen hier können sich große Blattoberflächen leisten. Wir stoßen auf zwei Vertreter der giftigen Gattung Eisenhut (Bunter Eisenhut, Aconitum variegatum und Gelber Eisenhut, Aconitum lycoctonum), die Alpen-Pestwurz (Petasites paradoxus) und die Kohldistel (Cirsium oleraceum). Kurz darauf gibt es beim Halt am Rand einer Mähwiese Gelegenheit, über verschiedene Bewirtschaftungsintensitäten und deren Vor- und Nachteile zu diskutieren. Die Fettwiese vor uns ist zwar produktiv, aber artenarm – nach der ersten Mahd dominieren hier neben Gräsern wenige Arten aus der Familie der Doldenblütler (Apiaceae). Wir lernen die Unterscheidung zwischen Echtem Kümmel (Carum carvi), Wiesen-Bärenklau (Heracleum sphondylium) und Wiesen-Kerbel (Anthriscus sylvestris). Ein bunteres Bild bietet sich uns auf der steilen trockenen und mageren Straßenböschung unterhalb einer ohnehin schon steilen Mähwiese. Hier mischen sich aromatische Lippenblütler (Lamiaceae) wie Oregano (Origanum vulgare), Breitblättriger Thymian (Thymus pulegioides) und Gemeiner Wirbeldost (Clinopodium vulgare) zu Gemeinem Sonnenröschen (Helianthemum nummularium) und Rispiger Graslilie (Anthericum ramosum). Das Gewöhnliche Bitterkraut (Picris hieracioides) vom Straßenrand mit seinen Widerhaken nehmen wir als klebriges Wappen auf dem Hemd gleich mit auf die weitere Wanderung. Mit nun schon differenzierterem Wiesenblick stoßen wir etwas talauswärts vom Ort auf Grünland, welches mehrere Indikatoren für eine weniger intensive Bewirtschaftung aufweist. Die charakteristische Magerwiesen-Margerite (Leucanthemum vulgare) und die chlorophyllfreie, schmarotzende Nelken-Sommerwurz (Orobranche caryophyllacea) deuten auf wenig Düngung hin. Dazu gesellen sich volksmedizinisch geschätzte Heilpflanzen wie der Gemeine Augentrost (Euphrasia officinalis), der Mittlere Wegerich (Plantago media) und die Schafgarbe (Achillea millefolium).
Nach einer stärkenden Mittagsjause im Gelände und einem steilen Anstieg geht es auf einer mageren Weide farbenprächtig weiter. Auf Kalkuntergrund bilden sich besonders artenreiche Pflanzengesellschaften. Die Suche nach neuem saisonalen Weideland bildet hier in Gramais auch den Ursprung der historischen Besiedelung, welche kurioserweise nicht vom Lechtal, sondern von der Imster Gegend her erfolgte. Wir machen Bekanntschaft mit dem Tiroler Grauvieh, einer Rinderrasse, welche durch den nicht allzu schweren Körperbau bestens an die Weidehaltung auch in steilem Gelände geeignet ist. In der Alm-Apotheke zu unseren Füßen finden sich die Blutwurz (Potentilla erecta), der Echte Wundklee (Anthyllis vulneraria) und der Alpen-Silbermantel (Alchemilla alpina), und dank Echtem Labkraut (Galium verum) wäre der Schritt von Milch zu Käse auch machbar. Die bunte Vielfalt an Blütenpflanzen lädt dazu ein, mit Lupe und Bestimmungsliteratur nochmal auf eigene Faust loszuziehen und das erworbene Pfanzenwissen zu festigen. Und damit der Überdruck in den Köpfen in vertretbaren Maßen bleibt, runden wir die intensive Botanik-Einheit mit einer meditativ-künstlerischen Tätigkeit ab. Mit den natopia-Farbpaletten können sich alle TeilnehmerInnen ihre eigenen bunten Ansichtskarten gestalten und ein kleines Stück der ganz kleinen Gemeinde mit nach Hause nehmen.
Am Abend mit dem Entomologen Kurt Lechner, der seit vielen Jahren den Natopia Erlebnisunterricht Insekten konzipiert und betreut, steht eine Einführung in die Welt der Sechsbeiner auf dem Programm. Ziel ist es, bei der Einheit im Gemeindezentrum Elmen genügend Grundverständnis zu vermitteln, um am nächsten Tag bei der Exkursion nach Forchach an den Lech darauf aufbauen zu können und Insekten eigenständig zu beobachten und zu erforschen. Insekten, die seit etwa 400 Millionen Jahren die Erde bewohnen, beeindrucken schon alleine durch ihre Formen- und Artenvielfalt. Fast eine Million Insektenarten wurden bisher beschrieben (Schätzungen gehen von bis zu 30 Millionen Arten aus), damit verkörpern sie 60 Prozent des tierischen Artenreichtums. In Österreich gibt es etwa 37.000 Arten, mehr als im angrenzenden und flächenmäßig viel größeren Deutschland. Den Löwenanteil der Vielfalt stellen die Ordnungen der Käfer (Coeloptera), Schmetterlinge (Lepidoptera), Hautflügler (Hymenoptera) und Zweiflügler (Diptera), wobei es besonders bei letzteren beiden Gruppen noch große Wissenslücken gibt. Anscheinend beschäftigen sich auch WissenschaftlerInnen lieber mit Schmetterlingen als mit Mücken! Jedes Jahr werden weltweit meherer tausend Insektenarten neu beschrieben. Die traurige Seite der Vielfalt ist, dass jährlich im Zuge des anthropogenen („menschgemachten“) Massenaussterbens eine noch viel größere Zahl an Insekten für immer verschwindet. 40 Prozent aller Insektenarten sind laut einer australischen Metastudie vom Aussterben bedroht, und der Rückgang in den Populationsgrößen ist noch erschreckender. Viel internationale mediale Aufmerksamkeit hat die sogenannte „Krefeld-Studie“ erhalten, welche auf Biomasseaufnahmen fliegender Insekten in Schutzgebieten über fast drei Jahrzehnte aufbaut. Die Biomasse fliegender Insekten hat im Beobachtungszeitraum um 76-81 Prozent abgenommen! Diese und andere Veröffentlichungen und Kampagnen haben dazu geführt, dass nach dem Klimawandel nun auch der weltweite Lebensraumverlust und Artensterben langsam in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rutscht. Nicht nur für Insektenfreunde, sondern für alle Menschen hat diese Entwicklung viel Gewicht. Insekten verarbeiten organisches Material, bestäuben 90 Prozent der Blütenpflanzen, sind an vielen Stellen in die Nahrungsnetze eingebunden und damit wichtige ökologische Regulatoren. Mit der Effizenz einer Hummel, die in hundert Minuten 2.600 Blüten bestäubt, werden die menschlichen Obstbaum-Bestäuber in Chinas „Bestäuberwüsten“ nicht mithalten können. Im Anschluss an die allgemeine Einführung werden die wichtigsten Gruppen von Insekten kurz angesprochen, bevor der allgemeine Körperbau dieser Tiergruppe behandelt wird: der dreigeteilte Körper mit sechs Beinen am Brustteil (Thorax), die zeitlich hochauflösenden Facettenaugen (bestehend aus bis zu jeweils 30.000 Einzelaugen bei Libellen), die Stigmen genannten seitlichen Öffnungen des Tracheensystems zur Atmung, das Exoskelett (Panzer unter anderem aus Chitin), um nur einige Grundmerkmale zu nennen. Gegen Ende des Abends gelingt es Kurt, die langsam eintretende Müdigkeit mit tollen Präparaten heimischer und tropischer Insektenarten nochmal zu vertreiben.
Den Großteil des darauffolgenden Tages verbringen wir in Forchach, wo wir auch Gelegenheit haben, die in diesen Tagen neu eröffnete Hängebrücke über den Lech einzuweihen. Hier wurde nicht nur die historische Fußgängerbrücke über den Lech neu gestaltet, sondern auch durch den Rückbau von Verbauungsmaßnahmen das Flussbett verbreitert – eine wichtige Verbindung zweier vormals durch einen „Flaschenhals“ voneinander abgetrennten Wildfluss-Abschnitte bei Forchach und Weißenbach. Bevor wir den Lech überqueren, untersuchen wir eine Magerweide in Flussnähe auf ihre sechsbeinigen Bewohner hin. Dabei wird der Umgang mit Schmetterlingsnetz und Becherlupe trainiert, während Kurt wertvolle Praxistipps zum Handling und Vorzeigen der Insekten gibt. Der Gemeine Bläuling (Polyommatus icarus) und der Graubindige Mohrenfalter (Erebia aethiops) lassen sich mit viel Fingerspitzengefühl die Rüssel ausrollen – und beweisen uns entgegen aller Stadtlegenden, dass Schmetterlinge genauso gut fliegen können, nachdem ihre Flügel berührt wurden. Auch die Unterscheidung zwischen der Honigbiene (Apis mellifera) und der Mimikry-Meisterin Mistbiene (Eristalis tenax) fällt dem geübteren Auge nun nicht mehr so schwer.
Auch bei der Mittagsjause beim „Luambachl“ am Rand der von Rotföhren (Pinus sylvestris) dominierten Trockenau sorgt das grassierende Insektenfieber dafür, dass einige kaum mehr ruhig sitzen können. Auch unser Chef-Entomologe Kurt kaut und kauert gleichzeitig am Ufer eines kleinen Stillgewässers. Manche Libellenarten sind dermaßen reaktionsschnell und fluggewandt, dass sie sich nur mit der Geduld eines Lauerjägers erwischen lassen. Die Blaugrüne Mosaikjungfer (Aeshna cyanea) eignet sich aufgrund ihrer beeindruckenden Größe zur genaueren Betrachtung verschiedener Körperorgane. Die glänzenden Facettenaugen und die kräftigen Mundwerkzeuge kommen hier besonders eindrucksvoll zur Geltung. Etwas kleiner, aber nicht minder schön anzusehen sind der Vierfleck (Libellula quadrimaculata), die Schwarze Heidelibelle (Sympetrum danae) und die Westliche Keiljungfer (Gomphus pulchellus). Auf dem Weg zum Lechufer und den Schotterbänken zwingt uns die Deutsche Tamariske (Myricaria germanica), durch ihre Spezialisierung auf die Wildfluss-Dynamik eine botanische Rarität im Alpenraum, zu einem kurzen Exkurs ins Pflanzenreich. Auf der Schotterbank angekommen, führt uns Kurt in das zweite seiner Spezialgebiete ein. Neben Schmetterlingen beschäftigt er sich intensiv mit heimischen und tropischen Heuschrecken. Hier am Lechufer stellt er uns drei Charakterarten für diesen Lebensraum vor. Die Gefleckte Schnarrschrecke (Bryodemella tuberculata) ist mit ihrem Wechsel zwischen optisch und akustisch auffälligem „Schnarrflug“ und perfekter Tarnung zwischen Steinen der Star auf der Schotterbank; sie ist auch für Laien leicht auszumachen. Ein geschulterer Blick ist nötig zur Identifizierung des Kiesbank-Grashüpfers (Chorthippus pullus) und Türks Dornschrecke (Tetrix tuerki).
Während der heißesten Nachmittagsstunden ziehen wir uns nochmals in den Gemeindesaal zurück mit dem Vorhaben, die Kerninhalte nochmals zu festigen. Kurt vermittelt in einer Präsentation den Überblick über die wichtigsten heimischen Insektenordnungen und deren anatomischer Unterscheidungsmerkmale, damit die Wanze auch Wanze bleibt und nicht zum „Stinkkäfer“ wird. Mittels heimischer und exotischer Präparate wird die Bestimmung auf Ordnungsniveau geübt. Für große Augen sorgen die lebenden Exemplare tropischer Gespenst- und Stabschrecken, mit denen die KursteilnehmerInnen auf Tuchfühlung gehen können. Diese gehören zu den größten Insektenarten weltweit, wodurch auch der allgemeine Körperbauplan der mannigfaltigen Sechsbeiner besonders gut ersichtlich ist. Ob Insekten nun die heimlichen „Herrscher der Erde“ sind oder nicht, uns haben sie mit ihrer Formen- und Farbenvielfalt jedenfalls ganz in ihren Bann gezogen!
Vor dem Abendessen sind wir im einzigartig gelegenen Naturparkhaus AUF der Klimmbrücke zu Gast. Yvonne Markl, eine der Biologinnen vom junger Naturpark-Team, erzählt von den biologischen Besonderheiten ihres Einsatzgebiets und stellt einige der Schwerpunkte der Naturparkarbeit vor.
Am Samstag geht’s, wie es sich fürs Wochenende gehört, ab an den See. Caroline Winklmair vom Naturpark Tiroler Lech erwartet uns zu einer kleinen Tour an „ihrem“ Vilsalpsee, für den sie auch als Schutzgebietsbetreuerin zuständig ist. An einem sonnigen Augustsamstag lässt sich unschwer erahnen, dass an einem solch idyllischen Urlaubermagnet das Besuchermanagement zu den größten Herausforderungen zählt. Der großzügig bemessene Parkplatz ist schon am frühen Vormittag voll besetzt. Auch zeigt sich hier, dass die ersten Naturschutzbemühungen oft mehr mit Landschaftsästhetik als mit bedrohten Arten und Lebensräumen zu tun hatten. Als der malerische Vilsalpsee 1957 zum Naturschutzgebiet erklärt wurde, war die Wildflusslandschaft am Lech noch Jahrzehnte von einer naturschutzrechtlichen Würdigung entfernt.
Gleich beim Seegasthaus begrüßen uns Stockenten (Anas platyrhynchos). Die Männchen sind nach der Paarungszeit schon wieder im unauffälligeren Schlichtkleid, der Geschlechtsdimorphismus ist also im Hochsommer kaum erkennbar. Bei dieser häufigsten einheimischen Entenart handelt es sich um eine Schwimmente oder Gründelente, das heißt sie taucht nur kurz unter. Im Gegensatz dazu gehen Tauchenten länger unter Wasser auf Nahrungssuche. Das Blässhuhn (Fulica atra) lässt sich von uns unbeeindruckt beim Nestbau in Ufernähe beobachten, während die Gänsesäger (Mergus merganser) weiter hinten am See zwar auf das Gewässer als Lebensraum angewiesen sind, die Brut allerdings in Baumhöhlen der Umgebung vollziehen. Caroline erklärt uns die „kalte Füße“-Strategie der Wasservögel – der Kernbereich des Körpers wird warm gehalten, während die Anordnung der Blutgefäße dafür sorgt, dass das Blut in den Extremitäten durch Wärmetausch auf dem Weg hinaus abkühlt und sich auf dem Rückfluss wieder erwärmt.
Unweit vom Seeufer stoßen wir auf eine Pflanze, die bei vielen Naturschützern wohl eher Vernichtungsfantasien auslöst als Schutzreflexe. Im Zuge von Erdarbeiten wurde hier der Bastard-Staudenknöterich (Fallopia ×bohemica) eingeschleppt, dessen unterirdischer horizontaler Spross als vegetatives Verbreitungsorgan für Kopfschmerzen bei Neophytenbeauftragten sorgt. Das Wurzelwerk dieser zweihäusigen Pflanze (Individuen sind entweder weiblich oder männlich, wie bei Brennnessel oder Hanf) kann durch das Sprengen von Mauern auch erheblichen wirtschaftlichen Schaden anrichten.
Weiter flussabwärts in der Vilser Au gibt es mittlerweile einen dauerhaften Biberbestand. Hier hoch an den Vilsalpsee hat sich vor wenigen Jahren einmal ein wanderndes junges Einzeltier verirrt, der Lebensraum wurde jedoch anscheinend als unzureichend beurteilt. Da Caroline neben ihren Tätigkeiten als Schutzgebietsbetreuerin und für den Naturpark auch Biberbeauftragte im Bezirk ist, holt sie den Biber zumindest in Form ihrer Geschichten und der Präparate, die sie mit im Gepäck hat, nochmal hoch an den Vilsalpsee – und erzählt uns Interessantes zur Geschichte, Biologie, Ökologie und aktuellen Situation dieser faszinierenden Tierart, die seit einiger Zeit in Tirol wieder massiv auf dem Vormarsch ist.
Den Nachmittag starten wir mit Bildern, die fast aus einer anderen Welt zu kommen scheinen. Der pensionierte Biologielehrer und natopia-Urgestein Hubert Salzburger hat neben dem Imkern, Gärtnern und der Naturkunde im Allgemeinen eine besondere Leidenschaft für die Makrofotografie von Blüten und deren Besuchern. Es ist aber nicht nur die ästhetische Schönheit, die Hubert dabei anzieht, sondern auch das Studium und Verständnis der faszinierenden Wechselbeziehungen zwischen Blütenpflanzen und ihren Bestäubern – eines der offensichtlichsten und bekanntesten Beispiele für Co-Evolution. Wir sind es gewohnt, beim Thema Bestäubung sofort an die Honigbiene zu denken. Oft wird dabei vergessen, dass eine Vielzahl von Insektengruppen diese ökologische Funktion übernimmt: Wildbienen (mehr als 600 Arten in Österreich!), Schmetterlinge, Fliegen, Wespen, Ameisen und Käfer sind an jeweils unterschiedliche Blütenformen angepasst. Die Form eines bestimmten Blütentyps erlaubt also Rückschlüsse auf die Anatomie und das Verhalten der jeweiligen Bestäuber. Für die auffälligen und großen Scheibenblüten verwendet Hubert gerne die Analogie ders Fast-Food-Restaurants (viel Werbung, alle willkommen), während die Röhrenblütenform mit ihrer erschwerten Zugänglichkeit zum Nektar eher das Bild eines exklusiven Feinschmeckerlokals aufkommen lässt (langer Rüssel als „Eintrittskarte“). Auch Schalenblüten, Lippenblüten, Glockenblüten und Stieltellerblüten haben jeweils Vor- und Nachteile und komplexe symbiontische Beziehungen mit ihren Bestäubern. Doch nicht immer muss die Interaktion von beiden Parteien gewollt sein: Wir erfahren vom „Insekten-Kidnapping“ des Frauenschuhs und dem „Nektardiebstahl“ durch Hummeln.
Beim nachmittäglichen Ausgang, eine kurze Strecke von der Klimmbrücke hoch zum Lechweg, zeigt Hubert, wie Naturführertempo geht. Weniger Schritte bedarf es meist, und schon sind wieder genug interessante Pflanzen am Wegesrand aufgetaucht, um allerlei interessante Geschichten zu erzählen. Volksmedizinisch interessant sind Spitz-, Breit- und Mittlerer Wegerich (Plantago lanceolata, P. major, P. media), Gewöhnlicher Frauenmantel (Alchemilla vulgaris), Gemeine Schafgarbe (Achillea millefolium) und Augentrost (Euphrasia officinalis). Interessant ist aber auch, wie Hubert mit einem Grashalm und dem Saft einer Zypressen-Wolfsmilch „Bio-Seifenblasen“ formt und mit Hilfe von sich mit Säure verteidigenden Ameisen Farbenzauber an einer Glockenblume (Campanula sp.) durchführt. Eine bekannte Giftpflanze setzt zum Glück nicht uns, sondern unserem kräuterkundlichen Spaziergang ein Ende. Bei dieser Gelegenheit erfahren wir zum Abschluss auch, was es mit der schönen Frau im wissenschaftlichen Namen der Tollkirsche (Atropa belladonna) auf sich hat.
Der Sonntag mit Wildtier-Experten Carsten Löb steht ganz im Zeichen der Vögel und Säugetiere. Bei diesen Tiergruppen ist es im Vergleich mit etwa Insekten naturgemäß schwieriger, unmittelbar auf Tuchfühlung zu gehen. Carsten hat jede Menge Tipps aus der Praxis eines Wildnisfans auf Lager: Wie nähere ich mich schrittweise dem schwierigen Thema Vogelbeobachtung an, ohne die Freude daran durch Überforderung zu verlieren? Wie sollte ich mich in der Natur verhalten, um möglichst viel mit Wildtieren in Kontakt zu kommen? Und welche Informationen stehen mir durch Laute und Spuren ständig zur Verfügung, auch wenn sich gerade keine Tiere blicken lassen?
Bevor wir zur Einstimmung kurz die Rauchschwalben (Hirundo rustica) und Haussperlinge (Passer domesticus) im Dorfzentrum von Elmen beobachten, setzen wir uns mit dem jahreszeitlichen Aspekt in der Vogelwelt auseinander. Balz- und Brutzeit sind jetzt im August bereits vorbei, und auch die Jungvögel sind schon ausgeflogen. Es sind also mehr Rufe als Gesänge zu erwarten. Anhand mitgebrachter Präparate von Misteldrossel (Turdus viscivorus), Singdrossel (Turdus philomelus), Buntspecht (Dendrocopos major) und Sperlingskauz (Glaucidium passerinum) erklärt Carsten die Anordnung des Gefieders. Seine liebevoll zusammengesetzten Federbilder von verschiedenen Arten zeigen, dass er sich schon öfters mit der Lage und Form von Armschwingen, Handschwingen und Steuerfedern auseinandergesetzt hat. Auch die Vogelsprache ist ein spannendes Kapitel, zu dem verschiedene Annäherungsmöglichkeiten vorgestellt werden. Weit über die reine ornithologische Beschäftigung hinaus ist sie interessant als eine Art Frühwarnsystem, das in konzentrischen akustischen Ringen so gut wie jeden Lebensraum durchdringt und auf alle möglichen Aktivitäten hinweisen kann.
Auch zu den heimischen Säugetieren hat Carsten jede Menge Anschauungsmaterial mit im Gepäck. Die Läufe von Rothirsch, Reh, Gämse und Steinbock verraten allein durch ihre Anatomie einiges über die Lebensweise ihrer Träger, genauso wie die Schädel der Fleischfresser Fuchs, Marder und Katze. Doch es muss nicht ein Kofferraum voller Präparate bei jeder Naturführung dabei sein. Wie der Nachmittag in der Pflacher Au noch zeigen wird, hinterlassen Tiere dem aufmerksamen Beobachter überall Spuren – und werden so im Rahmen einer Naturführung präsent, auch wenn sie gerade woanders sind.
Vom Vogelbeobachtungsturm an der Pflacher Au aus genießen wir zuerst den wunderbaren Rundblick über dieses Feuchtgebiet am Lech. Mit Fernglas und Spektiv erspähen wir Blässhuhn (Fulica atra) und Zwergtaucher (Tachybaptus ruficollis). Auf den Wasserflächen wachsen Weiße Seerosen (Nymphaea alba), während Schilfrohr (Phragmites australis) und Rohrkolben (Typha sp.) die Vegetation im Niedermoor bestimmen. Doch schon bald tauschen wir die Vogelperspektive ein gegen den detailverliebten Fährtenleser-Blick. Im lehmigen Auboden suchen wir nach Trittsiegeln und anderen Hinterlassenschaften. Welche unsere „Referenzspur“ sein wird, ist bald klar. Da wir uns in einem beliebten Naherholungsgebiet befinden, stechen zuerst jede Menge Hundespuren in verschiedenen Größen ins Auge. Uns kommt allerdings zugute, dass ein Hochwasser vor wenigen Tagen reinen Tisch gemacht hat – älter kann also keine der von uns untersuchten Fährten sein. Mit der Zeit tauchen immer mehr Trittsiegel von Wildtieren zwischen den Hundespuren auf. Wir stoßen auf die Fährte von einem Rotwild (Cervus elaphus) mit Kalb, später auf Spuren von Feldhase (Lepus europaeus), Eichhörnchen (Sciurus vulgaris) und Reh (Capreolus capreolus). Doch ist es mit der Artbestimmung nicht getan. Mit Carsten bekommen wir schnell ein Gefühl dafür, wie man sich in einer Fährte fast verlieren könnte. Es gibt Richtungen und Tempowechsel zu analysieren, verschiedene Gangarten zu verstehen und mögliche Geschichten zu interpretieren. Passend auch der Abschluss bei einer schlampig hinterlassenen Grillstelle am Lechufer. Hier kommen die Lech-Detektive zum Schluss, dass nach dem Rückzug der Zweibeiner sich noch ein einjähriger Rotfuchs (Vulpes vulpes), ein Steinmarder (Martes foina) und eine Ratte (Rattus sp.) am Restebuffet gelabt haben.
Wir blicken mit Dankbarkeit zurück auf vier inhalts- und erlebnisreiche Tage im Naturpark Tiroler Lech, und mit Vorfreude nach vorne Richtung Nationalpark Hohe Tauern. Und weil die Geologie diesmal nicht mit präsent war im Modul, hat uns die Erde am Abschlussabend nochmal an ihre Kräfte erinnert – das Erdbeben mit Epizentrum nahe Landeck war auch in Elmen noch gut spürbar.